Mobilität und Migration prägen das 21. Jahrhundert, die daraus resultierenden Herausforderungen sind groß.

Sie zu bewältigen, dafür braucht es in Gesellschaften und Städten „neue Formen der Solidarität, die wir austesten, aushandeln, ausprobieren wollen“. 

Wie solche Formen aussehen können, skizzierte Anna Steigemann, Professorin für die Soziologischen Dimensionen des Raumes am DIMAS (Department für Interdisziplinäre und Multiskalare Area Studies) der Universität Regensburg, in einer Keynote zur von ihr und Moritz Ahlert kuratierten Ausstellung „Räume der Solidarität – Spaces of Solidarity“ im Regensburger M26, die am 2. April 2025 im Rahmen der 3. Regensburger Baukulturtage von Wolfgang Dersch, Kulturreferent der Stadt Regensburg, und Stephanie Reiterer von bauwärts eröffnet wird. 

Das Rubrum: Räume für alle?!

Es geht um Solidarität in ihrer ganzen Vielfalt, um menschliches Zusammenleben in Zeiten wachsender sozialer Ungleichheit und Fremdenfeindlichkeit. 

Das M26 ist bis auf den letzten Platz gefüllt, engagierte Mitarbeitende tragen flugs zusätzliche Stühle heran. Zu den Gästen gehören Universitätspräsident Professor Dr. Udo Hebel und zahlreiche Studierende, Architektinnen, Stadtplaner, Mitglieder sozialer Initiativen, Kulturschaffende, Passantinnen und Anwohner der Maximilianstraße 26 und des M26, einem „innerhalb kürzester Zeit geschaffenen, solidarischen, sich sorgenden Ort“, auf den Wolfgang Dersch zurecht stolz ist. 

„Dies bedeutet, dass das M26 das Moment der Fürsorge für die Stadtgesellschaft und in der Stadtentwicklung in den Blick nimmt, aber auch Sorge-Aspekte in der künstlerischen Produktion berücksichtigt. Der Raum fordert und fördert Kollaborationen und schafft Präsentationsrahmen“, sagt Regensburgs Kulturreferent. 

„Räume der Solidarität – Spaces of Solidarity“ im Regensburger M26 gibt Einblicke in solidarische Berliner Projekte aus den Bereichen Wohnen, Arbeit und Gesundheit unter den Prämissen von Globalität, Digitalität und Migration. Die Ausstellung war in ihrer ursprünglichen Form im Deutschen Architektur-Zentrum in Berlin zu sehen. 

Anna Steigemann hat gemeinsam mit Studierenden, Designerinnen und Grafikern in einer Seminarreihe große Schaubilder und Poster entwickelt, deren Inhalte im engen Austausch zwischen Aktivistinnen, Initiativen und Forschenden entstanden sind und die Thesen zu solidarischen Beziehungen formulieren. 

Mitmach-Orte

Berliner Projekten werden in der Regensburger Ausstellung verschiedene solidarische Räume aus Regensburg zur Seite gestellt. 

Sie zeigen Bilder von Mitmach-Orten wie dem Ribisl-Haus oder MucksMausWild, von Aktionen von CampusAsyl, einem Verein, der gleichberechtigte Teilhabe geflüchteter Menschen durch praktisches Handeln und zugleich politische Positionierung fördert, oder dem Werkhof Regensburg, einem Unternehmen mit sozialem Auftrag. 

Diverse soziale, soziokulturelle, kokreative und koproduktive Orte haben sich in Regensburg in den letzten Jahren in Kollaborationen entwickelt und erproben ein neues Miteinander. 

Anna Steigemann will in den nächsten Semestern mit ihren Studierenden unterschiedlicher Fächer analysieren, „wer in Regensburg solidarische Räume macht, wer sie gestaltet, wie die solidarische Praxis aussieht“.

Maximilianstraße re-visited“ ist ein Seminartitel Steigemanns im kommenden Sommersemester. 

Es geht der Soziologin, die vielfältige Erfahrung auf dem Gebiet von Stadtplanung gesammelt hat, darum „die Arbeits- und Produktionsbedingungen von Kunst, Kultur und Wissenschaft, all die tollen Menschen und Initiativen, die solidarisches Wissen und Räume der Solidarität koproduzieren, sichtbar zu machen und auch namentlich zu benennen“. 

Steigemann und ihre Studierenden wollen herausarbeiten, wie in diesen Räumen Solidarität produziert wird. 

Vom Potenzial des M26, Menschen, darunter Kulturschaffende, Künstlerinnen und Wissenschaftler zusammenzubringen und intervenierend in die Gesellschaft hineinzuwirken, ist Steigemann überzeugt. 

Die studentischen Teams blickten darauf, wie verschiedene Akteure Solidarität in Räumen praktizieren und welche städtischen Infrastrukturen sie dabei produzieren.  Offizielle Architektur und Stadtplanung schließen vulnerable Gruppen bei formalen Planungen oft aus, „so dass nur deren selbstgemachte Infrastrukturräume im Endeffekt deren Teilhabe und Versorgung ermöglichen“, erläutert Steigemann.

Die Ergebnisse der Berliner Analysen, die die Ausstellung zeigt, entstanden im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekts der Berlin University Alliance, einem Zusammenschluss der vier Berliner Universitäten (Humboldt, Charité, Freie Universität, Technische Universität), in dem sich aus verschiedenen Disziplinen (darunter Architektur, Ethnologie, Philosophie, Medizin, Gender Studies oder Migrationsforschung), zusammenkommende Wissenschaftlerinnen gemeinsam mit Praktiken und Infrastrukturen in der Migrationsgesellschaft beschäftigen. 

Wer braucht was, um teilhaben zu können?

Was braucht eine Person, 

  • die zu Nachtschichten muss,
  • alleinerziehend ist,
  • in prekärer Situation am Stadtrand wohnt, 

an städtischer Infrastruktur, um Teilhabe zu bekommen? 

Bus und Bahn, Kinderversorgung, Unterstützung in der Care-Arbeit, Einkommen, eine Wohnung beispielsweise. Wie gestaltet sich all das für die entsprechende Person? 

Im Anschluss an ihre Recherchen interviewten die Studierenden auch weitere Expertinnen und Experten und zeichneten die Gespräche auf Video auf. Teile dieser Interviews sind in der Ausstellung als Texte aufgeführt. 

Dabei stellte sich heraus: „Solidarität ist eigentlich für viele kein Begriff, etwas, mit dem viele nicht gearbeitet haben.“ 

Auf dieser Basis wurden erste Forschungsfragen entwickelt: 

  • Wie manifestiert sich Solidarität im Bereich „Wohnen“ in konkret physischen Strukturen, Typologien, Architekturen, Konstellationen?
  • Wie prägen Lebenswelten und Infrastrukturen des Alltags die Mobilisierung und Entstehung der Praktiken in der Solidarisierung auf der Quartiersebene?
  • Welche Akteurinnen und Netzwerke sind handlungsrelevant?
  • Welche konkreten Praktiken und Strategien verfolgen sie? Sind Dinge staatlich oder marktorientiert?
  • Wer ist zivilgesellschaftlich, wer aktivistisch unterwegs? 

„Uns hat auch interessiert, welche Personen und Gegenentwürfe im Diskurs erörtert werden und in welchem Verhältnis diese neuen entstandenen solidarischen Räume zu den Paradigmen der Stadtentwicklung stehen“, berichtet Steigemann. An manchen Stellen wurde dann auch transformatorisch räumlich interveniert.  

Mix der Methoden

Die Wissenschaftlerin macht in ihren Ausführungen deutlich, dass partizipative Aktionsforschung und experimentelle Ansätze mit ethnografischen Kooperationsmethoden, etwa qualitativen Interviews, Beobachtungen und Kartierungen einhergehen. 

Für die Studierenden bedeuten die Spaces-of-Solidarity-Seminare, sich immer mit Methoden auseinanderzusetzen, die sie aus ihrem eigenen Fach so nicht kannten – Experimente durchführen, zeichnen, schreiben – für alle sei es spannend gewesen, neue Tools auszuprobieren, sagt Steigemann. 

Die Schauwände im M26 zeigen kurze Fallbeschreibungen (case descriptions), Interviews, Illustrationen, Netzwerk-Diagramme und fotografische Dokumentationen. Sobald diese Momente erarbeitet wurden, galt es für Studierende und Dozierende, kritisch zu reflektieren und das im Feld Gefundene wieder an die Theorien und theoretischen Konzepte rückzukoppeln. 

Beispiele aus der Ausstellung sind 

  • das Gorillas Workers Collective, das in der Corona-Zeit in Berlin entstand und problematische prekäre Arbeitsbedingungen bei Essenslieferdiensten thematisierte;
  • ein Charité-Projekt in Sachen Gesundheitsversorgung, das auf Menschen reagierte, die nicht Deutsch als erste Sprache sprechen und auch aufgrund sozio-ökonomischer Probleme von der Gesundheitsversorgung ausgeschlossen sind;
  • gemeinsam genutzte Räume für Geflüchtete aus der Ukraine und Wohnungslose in Berlin, bei der zweitere eigentlich der ersten Gruppe weichen sollte. 

Es gab „Aufwachmomente“ im Feld, berichtet Anna Steigemann, spontane Solidarisierung resultierte in kollektiver Handlungsmacht, man half sich gegenseitig, es entstanden konkrete Aktionen und solidarische Strukturen. 

Wissensproduktion

Ein besondere Austauschort entstand in Berlin mit dem „Kiosk der Solidarität“ - ein autoethnografisches Reallabor, um solidarische Praktiken und Wissenschaften miteinander in Kontakt zu bringen. Ein mobiles Werkzeug und Ort  für kollaborativem Wissensaustausch – wie das M26 – und Labor für praktische Wissensproduktion rund um Stadt und Raum, eingebettet in Lehrforschungsprojekte.

Die Rednerin macht aber auch deutlich: Will man einen Ort wie das M26 als Plattform, als Sozialraum, als solidarische Infrastruktur von Regensburg etablieren, geht das nicht ohne finanzielle Förderung. „Hier passiert viel, aber mit struktureller Unterstützung könnte man viel mehr Solidarität erreichen.“ 

Der Berliner Kiosk der Solidarität, der im Rahmen der Ausstellung entstand, hat viele Mitwirkende, Halbtagskräfte: „Solidarisch kann man nicht nur nebenbei sein. Solidarität ist harte Arbeit“, sagt Steigemann. Finanzierung sei das A und O, um solidarisch in Städte hineinzuwirken. Wir können auch Selbsthilfe nicht glorifizieren, getreu dem Motto‚ wenn die euch nicht helfen, müsst ihr euch schon selber helfen‘“, betont Steigemann. 

Mit dem, Kiosk, sagt die Wissenschaftlerin – und das gelte auch für M26 – wollten „wir in die Stadt hinausgehen, um gemeinsam mit Bürgern, Wissenschaftlerinnen, Aktivisten ein Reallabor interventionistisch zu verzieren, um die gemeinsame Wissensproduktion zu stimulieren, in ganz niedrigschwelligem Austausch. Wir standen im Hintergrund und haben begleitet – beobachtet, Interviews geführt, danach fragend, wie kann dieser Raum Menschen zusammenzubringen, die schon wissen, wie Solidarität geht“. 

Die Ausstellung im M26 wirkt aus Sicht der Veranstaltenden als Auftakt für Regensburg. 

Begegnung, Netzwerke schaffen, Menschen in Austausch bringen, Wissen transferieren und produzieren: Das M26 bringt nicht zuletzt Menschen zusammen, die sonst keinen Kontakt miteinander hätten: Anwohnende, Menschen, die auf öffentlichen Raum angewiesen sind, Passantinnen auf dem Weg von A nach B, Behördengänger. 

Es geht um Sichtbarmachung künstlerischer und kultureller Aktivitäten, darum zu sehen, wer hier eigentlich wie lebt, herauszufinden, was die verschiedenen Regensburgerinnen und Regensburger für Bedürfnisse haben. Es ist eine Neubesetzung von öffentlichem Raum, es dient auch als Aufklärungsort – was läuft schief in der Maximiliansstraße? Wo gibt es Konflikte? 

Gemeinwohl

Zum Ende ihres Vortrags benennt Anna Steigemann die Vision des Kiosk der Solidarität und einem Ort wie dem M26: 

Solche Räume und Orte als langfristige Infrastruktur für zivilgesellschaftliche Initiativen in ganz Deutschland zu etablieren und anhand von Orientierung am Gemeinwohl auszurichten. 

Die Dozentin und ihre Studierenden an der Universität Regensburg wollen künftig daran mitwirken, einen solchen Raum zu gestalten. Der Applaus für die Rednerinnen und Veranstalter machen an dem Abend deutlich, dass sich solidarisch zeigen wird, wer solche Orte kennenlernt.

twa.

Initiiert werden die Baukulturtage 2026 von bauwärts und M26 mit dem DIMAS (Department für Interdisziplinäre und Multikulturelle Area Studies) der Universität Regensburg. 

Die Stadt Regensburg und der Treffpunkt Architektur Niederbayern und Oberpfalz der Bayerischen Architektenkammer fördern das Projekt.

Comments

Die Redaktion dankt herzlich für Hinweis und Link!

Tolle Ausstellung! Hier noch der Link zu dem erwähnten Berliner Forschungs-Projekt "Transforming Solidarities. Praktiken und Infrastrukturen in der Migrationsgesellschaft", in dessen Rahmen Ausstellung und Kiosk entstanden sind:

https://transformingsolidarities.net

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