Im Mittelalter konnte es alles kosten, ketzerisch genannt zu werden: Ruf, Freiheit, Leben. Aber was machte einen Ketzer eigentlich zu einem solchen? Und was waren das für Menschen? Gefährliche Rebellinnen, missverstandene Gläubige – oder eventuell einfach nur ihrer Zeit voraus?

Professor Dr. Jörg Oberste leitet das Forum Mittelalter der UR, das 2025 sein 20jähriges Jubiläum feiert, und ist Sprecher des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Graduiertenkollegs 2337 Metropolität der Vormoderne an der Universität Regensburg. 

Er erforscht eine Welt, in der Glaube, Politik und Macht auf so faszinierende wie erschreckende Weise aufeinandertrafen und in der man erbittert darum rang, was die richtige Auffassung von Gott war.

Interview

Was machte jemanden in den Augen der mittelalterlichen Kirche zum „Ketzer“, Herr Professor Oberste? 

Im christlichen Mittelalter bezeichnete Ketzerei oder Häresie den Abfall von der einen, durch die Kirche gelehrten Glaubenswahrheit. Da sich die Kirche einerseits als hierarchische Institution verstand, in deren Verantwortung die richtige Deutung der Bibel lag, und andererseits als Gemeinschaft aller rechtgläubigen Christen, wies etwa der Kirchenvater Augustinus (+430) auch auf einen sozialen Aspekt von Ketzerei hin: Und zwar auf die Gefahr der Abspaltung (griech. σχίσμα) andersgläubiger Gruppen von der einen christlichen Kirche. Die Gründung christlicher Glaubensgemeinschaften außerhalb der Kirche war ebenso wie die Formulierung und Befolgung eigener christlicher Lehrsätze, die nicht von der kirchlichen Autorität geteilt wurden, in den Augen der katholischen Kirche “Ketzerei”. 

Ab wann wurde die Inquisition tätig?

Die als Inquisition bezeichnete Organisation des römischen Papsttums zur Verfolgung und Verurteilung von Ketzern gibt es erst seit den 1230er Jahren. Sie entstand im Zusammenhang mit der intensiven Ausbreitung der katharischen Bewegung in Südfrankreich. Im Jahr 1209 rief Papst Innozenz III. (1198-1216) zu einem Kreuzzug christlicher Ritter gegen die Katharer in der Grafschaft Toulouse auf. Nach über 20 Jahren teilweise blutiger Auseinandersetzungen wurde dieser Kreuzzug durch einen Friedensschluss zwischen dem Grafen von Toulouse und dem König von Frankreich offiziell beendet. Das Ergebnis war für die römische Kirche niederschmetternd.

Warum?

Die katharische Bewegung war durch den Kreuzzug kaum geschwächt, wenn auch in den Untergrund gedrängt. Mit Rittern ließ sich schlicht nicht gegen die Attraktivität andersgläubiger Angebote ankämpfen. Diese Erfahrung bewog den neuen Papst Gregor IX. (1227-1241) dazu, Angehörige der neuen Bettelorden der Dominikaner und Franziskaner damit zu beauftragen, durch neue Verhörmethoden und mit einer guten theologischen Ausbildung gegen Ketzer vorzugehen.
 

Der erste päpstliche Auftrag an dominikanische Mönche in Sachen Inquisition ging im Jahr 1231 an den Predigerkonvent in Regensburg. 

Die größten Inquisitionsprozesse wurden aber in den folgenden Jahrzehnten vor allem in Südfrankreich geführt. Vor 1231 war die Verfolgung von Ketzern Aufgabe der lokalen Bischöfe, die jedoch völlig unterschiedlich agierten: Manche waren eher tolerant, andere verhängten schon im 11. Jahrhundert gegen theologische Irrlehrer die Todesstrafe.

Gab es Orte, an denen „ketzerische Ideen“ besonders populär waren?

Man kann im 12. und 13. Jahrhundert auf Südfrankreich und Oberitalien hinweisen. Toulouse, Carcassonne, Albi oder auch Mailand wurden von katholischen Autoren als „Schlangengrube von Ketzern“ verunglimpft. Gerade die Bewegungen der Katharer und Waldenser erreichten in diesen Jahrhunderten großen Zuspruch aus allen sozialen Gruppen. Die Gründe dafür sind vielfältig: 

  • Unzufriedenheit mit den religiösen Angeboten der örtlichen katholischen Kirche – da kann man an ungebildete Dorfpfarrer oder opulente und wenig vorbildliche Bischöfe denken;
  • sowohl Katharer als auch Waldenser boten Frauen eine Möglichkeit, als Predigerinnen und Priesterinnen (bei den Katharern als „Vollkommene“) führende Positionen in den religiösen Gemeinschaften zu übernehmen;
  • der strenge Dualismus der Katharer;
  • die Vorbildlichkeit asketischer Predigerinnen und Prediger. 

Wie fand man Universitäten?

Sie waren die Orte, an denen – im Sinne der Kirche – abtrünnige Ideen entstanden und gewisse Popularität erlangten. Die höhere Bildung war im christlichen Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein ein kirchliches Privileg. Wissenschaftlicher Fortschritt stand unter dem Primat der kirchlichen Lehre. Das heißt dass etwa naturwissenschaftliche Erkenntnisse lange als ketzerisch verfolgt wurden, wenn sie den Schöpfungsmythos in der Bibel im Buch Genesis infrage stellten, nach dem die Erde im Mittelpunkt des Universums stand. Galileo Galilei und Giordano Bruno, zwei geniale Naturwissenschaftler des 16. und 17. Jahrhunderts, gerieten in Konflikt mit der Inquisition. Letzterer bezahlte dafür sogar mit seinem Leben.
 

Missbrauchte die Kirche ihre Macht im Rahmen der Inquisition?

Als moderner Mensch kann man die Inquisition nur als Machtmissbrauch beurteilen. Im Namen einer religiösen Lehre, die sich im Kern auf Friedfertigkeit und Mitmenschlichkeit beruft, wurden Andersgläubige mit schärfsten Mitteln, die auch Folter und Todesstrafe umschlossen, verfolgt. Hier sieht man, dass die mittelalterliche Kirche als Machtfaktor einen heute kaum mehr vorstellbaren Einfluss auf das Denken und den Alltag aller Menschen in ihrem Machtbereich hatte. Es gibt aber auch ein Andererseits… 

Barg die Inquisition denn Gutes?

Die Regeln des Inquisitionsprozesses, denen die Inquisitoren im Rahmen ihres Auftrags unterworfen waren, stellten im 13. Jahrhundert einen juristischen Fortschritt dar: Das lateinische inquisitio bedeutet Untersuchung. Diese Untersuchungen umschlossen Verhöre, die von Notaren protokolliert wurden, und die Sammlung von Beweisen und Indizien, auf deren Grundlage Urteile gefällt wurden. Mit dieser Prozessform wurde der alte Akkusationsprozess abgelöst, in dem sich die Beschuldigten oft nur durch so genannte irrationale Beweismittel gegen die Anklage wehren konnten: etwa durch die Benennung von Leumundszeugen oder durch körperliche Proben, die als Gottesurteil galten und die Beschuldigten in der Regel in Lebensgefahr brachten.

Heute gibt es eine intensive Forschung über die Inquisition, die mit ihren Verhörprotokollen eine recht große Quellenüberlieferung hinterlassen hat. Darin spiegelt sich zum einen der institutionelle Machtmissbrauch, den einzelne Inquisitoren durch große Brutalität oder Unbarmherzigkeit sogar noch steigerten. Zum anderen aber zeigen diese Forschungen, dass das heutige Bild in der Öffentlichkeit stärker durch solche Exzesse bestimmt wird als durch den Alltag der meisten Inquisitoren. Das beste Beispiel ist der südfranzösische Dominikaner Bernard Gui, der um 1320 als Inquisitor in Toulouse tätig war. Durch den Roman Der Name der Rose von Umberto Eco und seine sehr populäre Verfilmung ist Bernard Gui die Inkarnation des blutrünstigen Inquisitors geworden. Seine überlieferten Prozessakten zeichnen ihn hingegen als eher moderaten Richter, der in über 20 Jahren nur wenige Todesurteile verhängte.

Was lehren uns diese Konflikte um Macht, Glauben und Gedankenfreiheit heute?

Wir leben in Europa und Teilen der ’Neuen Welt‘ in Regionen, die geistesgeschichtlich von der Aufklärung emanzipiert wurden. Die Französische Revolution und nach ihrem Vorbild viele europäische Verfassungen haben die Macht der Kirche im Rechtsalltag der Menschen zurückgedrängt und demokratische und gesetzlich fixierte Regelungen durchgesetzt. Soweit die eine historische Erfahrung.

Eine andere, jüngere Erfahrung lautet allerdings, dass trotz geschriebener Verfassungen und Gesetze der öffentliche Diskurs wieder stark von Feindbildern dominiert wird. Die ‚Rechten‘, ‚Linken‘, ‚religiösen Extremisten‘, ‚Ungläubigen‘ etc. sind für die jeweilige andere Seite Feinde, die man zu bekämpfen hat, und keine Mitglieder der Gesellschaft, mit denen man sich im Rahmen des demokratischen Diskurses auseinanderzusetzen hat.

Die Folge ist eine Spaltung und Polarisierung vieler Gesellschaften, wie sie noch vor zehn Jahren vermutlich selbst die größten Pessimisten nicht für möglich gehalten hätten. Das Mittelalter zeigt uns aus dieser bedrohlichen Entwicklung keine Auswege, eher schon die Aufklärung mit ihrem Bildungsideal und ihrem Anspruch, dass jedes Individuum zur Freiheit, damit aber auch zu einer gewissen Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen geboren ist.
 

Ringvorlesung im Sommersemester 2025: Wessen Gott?

Die Regensburger Ringvorlesung „Wessen Gott? Multireligiosität im Spannungsfeld von Koexistenz und Konflikt“ im Sommersemester 2025 geht in Beiträgen aus verschiedenen Disziplinen den gemeinsamen Traditionen und dem Zusammenleben, aber auch den Abgrenzungsmechanismen und Auseinandersetzungen religiöser Gruppen im erweiterten Mittelmeerraum von der Antike bis zur Gegenwart nach.

© Universität Regensburg | Interview: Tanja Wagensohn

Comments

No Comments

Write comment

* These fields are required