The Story Machine
Die Erzählung von Volksmärchen und -geschichten im Sinne der Weitergabe kultureller Werte, Inhalte und Praktiken, im Englischen „folklore“, spielt sowohl für Identitätskonstruktion als auch kulturelle Verständigung eine zentrale Rolle. In einer Zeit rapide zunehmender Migrationsrealitäten, alternativer Wahrheiten und populistischer Separatismustendenzen steht die Folklore- und erzählerische Gedächtnisforschung jedoch vor archivarischen und methodischen Herausforderungen. Wie generiert und speichert man solches Wissen, wie gibt man es weiter?
Wie lässt es sich in ein digitales, zunehmend von künstlicher Intelligenz durchzogenes Zeitalter überführen und für zukünftige Generationen bewahren? Diesen Fragen widmet sich ein mit 1,7 Millionen Euro gefördertes internationales Forschungsprojekt mit sechs Partnerinstitutionen in Bayern und England, das von Februar 2025 bis Februar 2028 an der Universität Regensburg durchgeführt wird. Koordiniert wird das Projekt von der University of London (Prof. Dr. Jane Winters); die Projektleitung auf deutscher Seite hat Prof. Dr. Astrid Ensslin, die am DIMAS die Professur für Dynamiken virtueller Kommunikationsräume innehat.
Zwischen den Digital Humanities und interdisziplinärer Erzählforschung soll das Projekt eine digitale Infrastruktur für Volkserzählungen von Märchen und Mythen zu Memen und Motiven aus Massenmedien aufbauen. Das Ziel ist, über eine neue Spatial Hypertext Architektur (ein räumlich-dynamisches Hypertextsystem mit personalisierten Empfehlungsalgorithmen) multidimensionale Verknüpfungen zwischen folkloristischen Motiven zu erarbeiten und sichtbar zu machen, so dass Texte und Motive aus verschiedenen Disziplinen erforschbar und über den Status eines nur digital kopierten archivalischen Artefakts hinaus einsetzbar werden. Die bislang dominante lineare Form des Geschichtenerzählens soll so in der Diversität und dem Facettenreichtum zeitgenössischer Folklore erweitert werden.
Astrid Ensslin erzählt im Interview mit DIMAS-Geschäftsführerin Laura Niebling, wie es zu dem Projekt kam und wie transkulturelle, algorithmisch unterstützte Volkserzählungen den Schulunterricht von morgen verändern könnten.
Interview
Warum interessieren dich Märchen und Volkserzählungen, Astrid? Was soll das Projekt „StoryMachine“ an und mit ihnen beforschen?
Meine Forschung setzt sich allgemein mit unterschiedlichen Erzählformen in digitalen Medien auseinander, und dazu gehören auch Märchen und Volkserzählungen. Dabei müssen wir uns im Klaren sein, dass Geschichten unsere menschliche Gedankensubstanz darstellen: Wir verstehen uns, wenn wir über uns sprechen und über uns nachdenken, durch Geschichten bzw. narrative Segmente, die wir nach Bedarf kombinieren und zu für uns je nach Situation sinnvollen Sequenzen zusammenbauen. Was da kognitiv passiert, wird im Englischen als „Storification“ oder „Narrativization“ bezeichnet. Dazu gehören Erinnerungen, die wir biografisch aufarbeiten.
Man kann narrative Konstruktionen aber auch verwenden, um sich selbst und die Welt um uns neu zu erfinden oder neu kennenzulernen. Und darum geht es im Grunde in diesem Projekt. Märchen, Mythen und religiöse Erzählungen sind als Sonderformen des Erzählens interessant, weil sie uns exemplarisch die Werte einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe aufzeigen. Es handelt sich dabei um reduzierte Kommunikationsinhalte, also um archetypische Figuren, Motive und Handlungen, die uns zeigen, wie die Welt funktionieren kann oder funktionieren sollte. Kinder lernen dies schon früh, aber auch für Erwachsene stellen allegorische, mythische und andere formelhafte Fiktionen eine wichtige Form inhaltlicher Kommunikation dar. Sie bilden sozusagen das epistemologische Rückgrat intuitiven Wissens über moralische Grundsätze und ontologische Strukturen, also darüber, wie die Welt verfasstist und wie sie funktioniert.
Wenn wir Märchen und Erzählungen nicht nur als historische Texte, sondern als dynamische Perspektiven auf die Welt verstehen, was geschieht dann?
Wenn man sich in verschiedene Kulturen hineinbegibt, merkt man, dass da Gemeinsamkeiten bestehen zwischen vielen Geschichten, die Menschen unterschiedlichster Herkünfte von Kindesbeinen an kennen – aber es gibt auch viele individuelle Versionen und kulturspezifische Geschichten. Für uns Menschen bilden Geschichten eine Art Gemeinschaftsmaterial, auf das wir immer wieder rekurrieren, um eine gemeinsame Basis zu finden und zu etablieren. Wenn man diese Basis nicht teilt, fühlt man sich ziemlich schnell ausgeschlossen. Deswegen ist es auch so wichtig, transkulturell Geschichten zu verwenden, zu erzählen und zu hören, um zu verstehen, wo die Leute herkommen und welche Werte und Grundsätze sie verinnerlicht haben.
Aber leider müssen wir uns heutzutage auch immer mehr mit Fiktionen im Sinne von Lügen beschäftigen, die über unsere gelebte Welt als Un- bzw. Halbwahrheiten, als False Truths und bewusste Irreführungen und Propaganda verteilt werden. Dazu gehören auch Feindbilder und Antagonismen, sowie separatistische, protektionistische und überzogen individualistische Konstruktionen. Leider scheint es der generelle Trend zu sein, dass wir von den gemeinschaftlichen Strukturen, die Geschichten schaffen können, immer weiter abweichen und uns immer mehr zu solch individuellen, separatistischen Weltbildern hinbewegen. Und dem möchten wir mit unserem Projekt entgegenwirken. Wir möchten uns mit Menschen unterschiedlichster, transkultureller Herkunft unterhalten, um herauszufinden, was sie bewegt, folkloristisch gesprochen.
Das Projekt „Story Machine“ umfasst mit dem DIMAS sechs Partnerinstitutionen. Wie kam es zu diesem Verbund und vor allem zu diesen spezifischen Kooperationen?
Unser Verbund kam eigentlich durch eine Anhäufung glücklicher Zufälle zusammen. Ich hatte Claus Atzenbeck von der Hochschule Hof, der bei uns die informationstechnische Seite abdeckt, erst letztes Jahr zufällig über eine Gastwissenschaftlerin aus den USA kennengelernt. Er hat mir damals erklärt, dass er für ein Tool mit dem Namen „Spatial Hypertext“, Projektideen aus den Geisteswissenschaften sammelt. Informatiker*innen bauen ja oft spannende Anwendungen und wissen dann nicht so richtig, nach welchen interdisziplinären Forschungsfragen man sie weiterentwickeln oder benutzen könnte.
Dazu brauchen sie u. a. uns Geistes- und Sozialwissenschaftler:innen, und so kommt es häufig zu sogenannten „unlikely marriages“. Claus hatte damals bereits Kontakte nach England und konnte so ein passendes Team von den Historiker:innen, Folklore-Wissenschaftler:innen, Mediennarratolog:innen und Digitalen Geisteswissenschaftler:innen zusammenbringen. Ich bin als Hypertext-Forscherin und digitale Kultur-, und Erzählwissenschaftlerin dabei. Wir haben dann für die User Interfaces noch eine kognitive Neurowissenschaftlerin aus München mit aufgenommen, und damit hatten wir alle Kernbereiche abgedeckt.Es geht euch um den Aufbau einer Plattform für Volkserzählungen. Welche Stories soll die „StoryMachine“ versammeln und wie stellt ihr euch diese Plattform vor?
Es geht um Stories im weitesten Sinne. Das sind nicht nur ganze Geschichten, es sind vor allem Motive. Zunächst wird der Aarne-Thompson-Uther-Index, die große, international etablierte Klassifikationssammlung für Erzählfiguren und Motive etwa in Märchen, eingespeist, sozusagen als Library und als Vergleichsbasis. Wir wollen dann Versuchspersonen aus verschiedenen Bereichen des Lebens und aus unterschiedlichen Kulturbereichen zusammenbringen, die uns ihre Mythen und Memes im Kopf erklären. Und dann wollen wir überprüfen: Was haben diese Personen gemeinsam? Wo finden sich Strukturen, die man vielleicht auch im Index wiederfindet, und worin unterscheiden sich die Strukturen?
Entsprechend wird die Plattform dazu dienen, auf der Grundlage von zwei Dingen, nämlich räumlichen Hypertextstrukturen (also eine Art mehrdimensionalen Verlinkungen) und Recommender Algorithms, also personalisierbaren Empfehlungsalgorithmen, zu zeigen, wie sich erzählerisch-folkloristische Denkstrukturen dynamisch abbilden lassen. Wenn sie einen bestimmten Prompt nutzen, wie zum Beispiel „Was denkst du über den Tod?“ oder „Was fällt dir zum Thema Liebe ein?“, können sie sich einen eigenen folkloristischen Hypertext bauen, können aber auch darauf zugreifen, was andere gesagt haben. Das ist so eine Art dynamisches Selbsterfinden, eine Form der Identitätsbildung durch algorithmisch ko-konstruierte Motive. Aber wir werden dabei nicht nur die fixen, statisch gesammelten Motive, wie sie auch in der Folkloreforschung traditionell vorkommen, abbilden können, sondern Motive werden durch „StoryMachine“ fluide ersetz-, kombinier- und damit personalisierbar. Auf dieser Grundlage wollen wir die Plattform (weiter)entwickeln.
Wie kommen beispielsweise auch internationale Geschichten in diese Plattform?
Da hat Regensburg den entscheidenden Beitrag zu leisten! Wir werden empirische Studien anfertigen, die auf verschiedenen Fokusgruppen beruhen. Wir wollen Fragen stellen wie: „Mit welchen Geschichten bist du groß geworden?“ oder „Welche Geschichten kennst du? Was sind deine Lieblingsgeschichten?“, und diese Fragen im Gespräch mit anderen verhandeln lassen. Die Daten, die wir dabei erheben werden, also die Memes, Geschichten und Charaktere, die da zusammenkommen werden, sollen dann in die Datenbank einfließen, aus der sich die „Special Hypertext“–Strukturen speisen. Und dann schauen wir mal, wo sich Überschneidungen ergeben und wo nicht.
Und das Endprodukt soll eine Plattform auf einer Webseite sein, die Open Access ist?
Ja genau. Eine Open Web App könnte zum Beispiel von Schulen eingesetzt werden im multikulturellen Literaturunterricht. Schulklassen sind heutzutage aus so vielen verschiedenen Ländern und Kulturgruppen zusammengesetzt, und diejenigen, die sich nicht mit dem im Lehrplan enthaltenen Geschichtenmaterial identifizieren, bleiben oft auf der Strecke. Wir wollen deshalb auch mit Auszubildenden, Lehrkräften, Pädagogik- und Lehramts-Studierenden arbeiten, die wahrscheinlich schon Ideen dazu haben, wie solche Inhalte didaktisch umgesetzt werden könnten und welche pädagogischen Herausforderungen dabei adressiert werden können.
Bleibt noch die Frage: Was ist dein Lieblingsmärchen?
Ich bin generell ein großer Freund von Geschichten jeglicher Art. Ich liebe es, mich in fiktionale Welten zu vertiefen und mir zu überlegen, inwiefern sie Strukturen unserer eigenen Welt widerspiegeln bzw. Alternativen dazu bieten. Aber das Märchen, was mich auch noch jetzt als Erwachsene und in meiner Forschung besonders stark beschäftigt hat, ist wahrscheinlich der Rotkäppchen-Mythos. Hier geht es ja im Grunde um Ungehorsam, um geschlechtsspezifisches Fehlverhalten, das zwangsmäßig zum Tod oder symbolisch gesehen im Urmärchen zur Vergewaltigung bzw. Bestrafung und patriarchalischen Erlösung führen muss. Dieses Motiv wurde vor allem im 20. Jahrhundert von feministischen Autor:innen und Medienproduzent:innen aufgegriffen und umgedeutet.
Angela Carter hat dazu zum Beispiel einen tollen Roman geschrieben: The Company of Wolves. Aber ich habe es auch in literarischen Videospielen gesehen und beforscht. Ein Videospiel, das dabei besonders zentral ist, nennt sich The Path (Tale of Tales). Es betitelt buchstäblich den Pfad oder Lebensweg, dem Mädchen anscheinend folgen müssen, um sich von Gefahrenzonen fernzuhalten. Und in diesem Spiel ist das Ziel, eben vom jenem „sicheren“ Pfad abzuweichen! Man muss die Regeln ignorieren, um entsprechende Lebenserfahrungen zu machen, um zu scheitern, um aus diesen Situationen zu lernen und eine mündige Person zu werden. Man sieht an diesem Beispiel, wie inspirierend Rotkäppchen als Figur und auch als Mythos gewirkt hat in der Mediengeschichte und wie Volksmärchen über Jahrhunderte hinweg gesellschaftlichen Wandel widerspiegeln können.
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