Franziska Haug ist Postdoc in der VW-Freigeist-Forschungsgruppe „Light On! Queer Literatures and Cultures under Socialism“ am Institut für Slavistik der Universität Regensburg (UR). Haug studierte Kunstpädagogik, Germanistik und Soziologie, ihre Schwerpunkte lagen auf Gender Studies, Kritischer Theorie und Politischer Ökonomie. 

Unlängst erhielt die Literaturwissenschaftlerin und Geschlechterforscherin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main den Cornelia Goethe Preis 2024 für ihre Promotion „Arbeit als literarisches Verfahren der Produktion von Geschlecht“. Die von der Frankfurter Schule inspirierte Wissenschaftlerin ist Mitbegründerin des Kollektives DiasporaOst und war u. a. als Lektorin für deutschsprachige Literatur beim S. Fischer Verlag tätig. Aktuell beschäftigt sie sich mit queerer DDR-Literatur.

Was ist queere Literatur, Franziska Haug?

Eine verbreite Antwort darauf ist sicher, dass queere Literatur jene Literatur ist, die von LGBTQI* Menschen und deren Leben erzählt, also von Schwulen, Lesben, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen Personen. Für mich ist aber queer mehr als „nur“ ein Sammelbegriff für alles nicht-heterosexuelle. Queerness ist für mich eine Subjektivität, Sexualität und politische Praxis des Brüchigen, des Unpassenden, des Polymorphen, das quer zu gesellschaftlich anerkannten Normen steht. Queerness also als etwas, das sich dem Zwang, sich mit der Gesellschaft und deren ideologischen Kategorien zu identifizieren, verweigert - oder dies zumindest versucht. Queere Literatur ist für mich in diesem Sinne eine Ästhetik des Nicht-Identischen. Eine Literatur, die sich für Widersprüche, für die Zwischenräume in den Binaritäten und für Mehrstimmigkeit interessiert. 
 

Wie kamen Sie zur Geschlechterforschung?

In meiner Generation wird zunehmend die Wende-Zeit thematisiert – das Aufwachsen in Ostdeutschland, eigentlich mit einer DDR-Sozialisation, aber in einer Umbruchzeit. Aus einem Land zu kommen, das es nicht mehr gibt, aber dazu viele Bezüge zu haben, beschäftigt mich sehr und war sicher letztlich einer der wesentlichen Auslöser, mich mit Geschlechterfragen zu beschäftigen. Ich bin noch in der DDR in Cottbus geboren und in einem Haushalt mit berufstätiger Mutter und Großmüttern aufgewachsen. Das war feministisch, auch wenn sich die meisten dieser Frauen nicht unbedingt als Feministinnen beschreiben würden. Als ich begann, in Frankfurt am Main zu studieren, wurde mir der Unterscheid zwischen Ost- und Westdeutschland erstmals wirklich bewusst, unter anderem an der Situation der Frauen in Familie und Beruf. Das Phänomen der sogenannten „Hausfrauen“ kannte ich bislang praktisch so nicht. Es hat mich nach den Unterschieden zwischen Ost und West fragen lassen. Es gibt zwar seit vielen Jahren eine rege Ostdeutschland-Debatte, darin geht es aber meist „nur“ um Nazis, Bundestagswahlen usw.
 

Die Frauen in den sozialistischen Staaten waren immer „werktätig“, dazu Mütter, Hausfrauen…

… und manche zusätzlich Künstlerinnen, etwa Autorinnen. Es gab eine rege Literaturproduktion von Frauen in der DDR. Darunter sind viele autofiktionale Schriften. Sie geben vieles über das Verhältnis von Geschlecht, Staat, Sozialismus und Individuum preis. Am Beispiel DDR frage ich danach, wie sich eine sozialistische Geschlechterpolitik auf die Individuen auswirkt. Dass Frauen in so vielen Positionen zur gleichen Zeit waren, darin liegt ein großer Fund für Analysen von Geschlechter- und Arbeitsverhältnissen begraben. Dazu gehören geschlechtsbezogenen Regularien und Gesetze in der DDR und ihre Gleichstellungspolitik im Verhältnis zu den individuellen Wahrnehmungen von Geschlecht oder Gleichberechtigung in Beziehungen. Für die Literaturwissenschaft ist in der DDR viel zu holen. Beispielsweise gab es auch explizite schwul-lesbische Literatur. Sie war in der DDR, anders als in anderen sozialistischen Staaten bzw. Ländern nicht flächendeckend verboten, sondern relativ zirkuliert. Sie lässt sich in Archiven leicht finden.
 

Mit welchen Autorinnen setzen Sie sich auseinander?

Maxie Wander, Brigitte Reimann, Irmtraud Morgner, Helga Königsdorf – um nur ein paar zu nennen. Sie haben im westdeutschen Kanon nicht so sehr Eingang gefunden. Anna Seghers oder Christa Wolf kennt man vielleicht noch eher. Ein Strang, den ich gerade verfolge, ist eine Art Protokoll- bzw. Interviewliteratur. Das prominenteste Beispiel dieser Art Gesprächsprotokolle mit DDR-Bürger:innen ist „Guten Morgen, du Schöne“ von Maxie Wander. Dieses Buch versammelt literarisierte Interviews mit Frauen in verschiedenen Lebens- und Arbeitsprozessen. Es heißt, dass das Buch eine Art Initiationsgeschenk in der DDR war, etwas, das Mütter ihren Töchtern zur Geburt schenkten. Es sind Protokolle von Frauen zwischen 17 und 80 Jahren. Sie erzählen von ihrem Arbeitsalltag und recht frei heraus auch von ihrer Sexualität. Solche Interviewprotokoll-Literatur gibt es auch mit schwulen Männern in der DDR, beispielsweise von Jürgen Lemke „Ganz normal anders. Auskünfte schwuler Männer“. 
 

Wie emanzipiert waren die Frauen in der DDR?

Im Osten gab es einen sozialistischen Feminismus, der aus der proletarischen Frauenbewegung kam – Frauen wie Alexandra Kollontai und Clara Zetkin prägten ihn. Frauen in der DDR waren fast alle berufstätig und damit ökonomisch von Männern unabhängig. Es gab Kinderbetreuung und bezahlbaren Wohnraum für alle, Schwangerschaftsabbrüche waren legal, Vergewaltigung in der Ehe ein Straftatbestand, das Scheidungsrecht wurde vereinfacht, Verhütung war kostenfrei zugänglich, die Verfolgung von Homosexuellen (unter anderem §175 Strafgesetzbuch) wurde abgeschafft. Dies bedeutet zwar nicht automatisch Emanzipation und doch lässt sich beispielsweise in dem weiblichen Selbstverständnis oder der freien Auslebung weiblicher Sexualität von Frauen aus der DDR ein entscheidender Unterschied zu jenen Frauen beobachten, die in den 1950/1960er Jahren in der BRD sozialisiert sind. Zugleich gab es in der DDR-Gesellschaft, aber auch in den Gesellschaften anderer sozialistischer Staaten, eine doppelte Vergesellschaftung der Frauen: Neben der Berufstätigkeit der Frauen übernahmen sie zusätzlich Hausarbeit. Ich habe mich mit dem Verhältnis von Arbeit und Geschlecht auseinandergesetzt, immer vor der mitlaufenden gesellschaftstheoretischen Analyse, immer danach fragend: Wie verhalten sich Geschlechterbeziehungen? Autoren wie Thomas Brasch etwa analysierten in den 1970er Jahren, was es mit Männern macht, wenn Frauen gleichberechtigt leben und arbeiten. Was er beobachtet hat, hat sich im Lauf der Zeit stark verändert. Das gilt für die Perzeption von Arbeit, aber auch die Art der Arbeit. 
 

In Ihrer Studie spannen sie dabei den Bogen von der Literatur zur Popkultur der Gegenwart…

In der Popkultur der Gegenwart gibt es unglaublich viele neoliberale Bezugnahmen auf den Körper und das eigene Geschlecht. Das wird in Arbeitsnarrativen beschrieben. Die Thematisierung von Geschlecht oder auch Arbeit am eigenen Körper ist im Mainstream-Pop gar nicht immer vordergründig. In Liedtexten und Videos der letzten 20-30 Jahre wird das einfach immer mitverhandelt. Es geht um Materielles, und es geht ums Aussehen. Frauen müssen sich das Geld für den Maserati, fürs Fitnessstudio, fürs Lifting erarbeiten. Britney Spears, Shirin David, oder Rihanna: In „Work” finden wir uns im Club, in der Küche, tragen kurze Röcke, zeigen nackte Haut. Sehr oft geht es um das, was ich als Körperarbeit beschrieben habe: Wenn du attraktiv sein willst im Sinne der Vorstellung von Attraktivität der Frau der Gegenwart, dann musst du das erst einmal überhaupt erarbeiten, um als das jeweilige Geschlecht erkennbar zu sein. Letztlich ist das die tiefer liegende Wahrheit der neoliberalen oder kapitalistischen Gegenwart: Frauen müssen einfach immer ein bisschen mehr tun. 
 

Taylor Swift auch? 
 

Es ist ein interessantes Phänomen, dass ein Popstar wie Taylor Swift diesen Zulauf von Frauen und Mädchen hat. Sie verkörpert zwar eine klassische, weiße, blonde US-Amerikanerin aus der Countrymusik und dem “bible belt”. Damit können sich viele in den USA identifizieren. Ihre Musik und ihr Auftreten ist wenig anstößig, nicht radikal, fast entpolitisiert. Trotzdem musste sie ein Konzert in Wien wegen einer Anschlagsdrohung von frauenverachtenden Islamisten absagen – das ist ein Widerspruch, eine klaffende Lücke. Sie ist keine Rapperin wie Nicki Minaj, die Freizügigkeit oder Promiskuität verkörpert, sie ist eher eine Durchschnittsbürgerin. Aber selbst sie wird zum Feindbild. Eigentlich tragisch. Und umso schlimmer. 
 

Für manche ist Taylor Swift eine feministische Ikone.

Es gibt seit einigen Jahren ein Phänomen, das als „Pop-Feminismus“ beschrieben wird: Ein Feminismus in der Populärkultur, in der Pop-Musik, der vor allem feministische Narrative bedient, aber nicht wirklich nachhaltig an reale Lebensbedingungen von Frauen anknüpft. Tiefgreifendere Probleme wie etwa Gewalt gegen Frauen, weibliche Armut oder Prostitution finden oft nicht statt. Feminismus wird eher als modisches Schlagwort benutzt. Aber selbst, wenn sich das als oberflächlicher Feminismus beschreiben ließe, der keinerlei politische Reibungsfläche mehr erzeugt, gibt es doch Identifikationsmomente, die auch positiv nutzbar sind. Dass zum Beispiel Leute anfangen, über Ungleichbehandlung oder Gender Pay Gap nachzudenken, wenn sie solche Vorbilder haben – vor allem junge Frauen. Bei manchen Künstlerinnen zeigt sich zudem, dass Verschiebungen möglich sind. Beyoncé ist ein solches Beispiel. Sie thematisiert die intersektionalen Verstrickungen von Geschlecht, Rassismus, Sklaverei, ökonomische Fragen, Unterschiede zwischen Schwarzen und weißen Menschen in den USA. 
 

Wo machen denn die politisch radikalen Frauen Musik?

Im Underground. Pop-Musik, die sich verkauft, hat Schwierigkeiten mit radikalen Positionen zu bestimmten Themen wie etwa Femizide, Rassismus oder Armut– das ist in der Regel nicht unbedingt, was die Massen interessiert. Aber beispielsweise gibt es im Rap weltweit seit 10-20 Jahren sehr viele sehr berühmte Frauen, die auch gut verdienen und populär sind. Eigentlich ist das ein Bereich, der sehr maskulin dominiert war und über Ländergrenzen hinweg eine frauenfeindliche Tradition hat. Gleichzeitig ist es aber auch eine Musikrichtung, die aus dem Aufbegehren Unterdrückter entstanden ist, eine Musikkultur, in der es um Emanzipation und Wehrhaftigkeit gegen die weiße Vorherrschaft geht. Es hat auf jeden Fall Radikalität, dass Frauen im Hiphop jetzt einen festen Platz haben.

Gibt es clashes mit den männlichen Rappern?

Wenn Mary J. Blige oder Lil‘ Kim ein Album machen, das Milliarden einbringt, dann wollen vielleicht auch Männer da mal drauf sein. Sie haben an der Stelle eigentlich auch keine andere Chance. Zugleich gibt es weiterhin sehr sexistischen bzw. sehr traditionellen Rap von Männern, der auch von Frauen gehört wird.

Wieso nur? 

Adorno beschreibt solche Art von Ambivalenz mit dem Begriff „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. Diese Gleichzeitigkeit charakterisiert auch die Gegenwart und damit auch die Geschlechterforschung. Die Spalte zwischen Fortschritt und Rückschritt vergrößert sich immer mehr. Wir haben immer ausdifferenziertere Fortschritte und Errungenschaften für Frauen und Queers – beispielsweise das neue Selbstbestimmungsgesetz, die Homoehe – gleichzeitig werden die Rückschritte, die reaktionären Angriffe auf die Fortschritte umso radikaler. In den USA herrscht dieser Widerspruch ebenfalls. Besonders deutlich ist das am Kampf um Schwangerschaftsabbrüche. Queer studies an den Universitäten sind in den 1990ern in den USA aus einer politischen Bewegung; einer Revolte von mehrheitlich nicht-weißen Sexarbeiter*innen und Schwulen-Lesben auf der Straße entstanden - einem Land, in dem es gleichzeitig die konservativsten, rassistischsten, frauenfeindlichsten Gesetze und Politiker gibt.

Warum gewinnen diese Bewegungen Wahlen? 

Vieles lässt sich rückkoppeln an Eigentums- und ökonomische Fragen. Wie frei sind Trump-Wählerinnen ökonomisch? Wem kommt das Privileg von Bildung zu? Müssen sie vielleicht sogar das wählen, was die Position des Mannes erhält, damit sie ihre eigene Position erhalten können? Freiheit im Kapitalismus ist relativ, man muss auf die Bedingungen schauen. Es gibt weniger objektive Zwänge in der US-amerikanischen Gesellschaft, anders als in Afghanistan oder im Iran. Es korreliert auch, dass patriarchale Bewegungen sich da ausbreiten, wo es wenige staatliche oder demokratische Regulierung gibt. In den USA muss man sich zudem fragen - wie frei ist die Freiheit zu wählen? Wieviel wissen die Menschen über die tatsächlichen Effekte ihrer Wahl? 
 

Ein wenig hätten es ihnen Taylor, Beyoncé, Lady Gaga und Oprah eigentlich erklärt.

Adorno würde sagen, es gibt sowas wie ein notwendig falsches Bewusstsein – wir werden geprägt von den materiellen Umständen, von Normen, Idealen, mit Bildern, mit Werbung, mit Sachen, die unser Bewusstsein so prägen, dass es durch und durch von den gesellschaftlichen Umständen geprägt ist. Dann ist es nicht mehr möglich, Entscheidungen zu treffen, die unabhängig von diesem notwendig falschen Bewusstsein sind, von all den Versprechungen, von ideologischen Träumen, die einem verkauft werden und die anzunehmen oder zu kaufen vielleicht auch der einfachere Weg sind. Aber ein Restwiderspruch bleibt, den ich auch nicht erklären kann. Aber vielleicht ist es, wie Thomas Brasch gesagt hat, und Widersprüche sind die Hoffnung.
 

© Universität Regensburg | Interview: Tanja Wagensohn 

Comments

Haugs Reflexionen über die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland und die Auswirkungen der Wende-Zeit auf die Geschlechterrollen sind aufschlussreich. Interessant ist ihre Beschreibung, wie sie in einem Haushalt mit berufstätiger Mutter und Großmüttern aufgewachsen ist, was sie als feministisch empfindet, auch wenn sich diese Frauen nicht unbedingt als Feministinnen bezeichneten. Diese persönlichen Erfahrungen verdeutlichen, wie historische und soziale Kontexte die Wahrnehmung und Darstellung von Geschlecht prägen.

Insgesamt ist es ein bereicherndes Interview, das wichtige Themen der Geschlechterforschung anspricht und zum weiteren Nachdenken anregt. Die ein oder andere erwähnte Literatur werde ich mir definitiv genauer ansehen.

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