In den Neurowissenschaften gewinnen geschlechtersensible Forschungsansätze zunehmend an Bedeutung – nicht zuletzt, weil zahlreiche neurologische und psychiatrische Erkrankungen bei Frauen und Männern unterschiedlich häufig auftreten, sich im Verlauf unterscheiden oder unterschiedlich auf Therapien ansprechen. Trotzdem beruhen viele klinische Standards und präklinische Studien bis heute auf männlichen Normwerten. 

Prof. Dr. Barbara Di Benedetto setzt mit ihrer Forschung genau hier an: Sie untersucht geschlechtsspezifische Unterschiede in Gliazellen – den bislang oft unterschätzten Mitspielern im zentralen Nervensystem. Im Interview spricht sie über die Ziele ihrer Forschung, aktuelle Projekte und darüber, warum es höchste Zeit ist, den „Gender Data Gap“ in der Biomedizin zu schließen.

Prof. Dr. Barbara Di Benedetto ist Biologin und seit 2014 Gruppenleiterin am Lehrstuhl für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg. Nach ihrer Promotion an der Technischen Universität München und einer Postdoc-Phase am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München habilitierte sie sich 2019 im Fach „Experimentelle Psychiatrie“ an der Universität Regensburg. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Rolle von Gliazellen, insbesondere Astrozyten und deren geschlechtsspezifische Funktion in der Entwicklung und Funktion des Gehirns sowie deren Bedeutung für psychiatrische Erkrankungen. Sie ist Ko-Koordinatorin des DFG-Schwerpunktprogramms „SEXandGLIA“ und engagiert sich für eine geschlechtersensible Neurowissenschaft.

Frau Prof. Di Benedetto, was ist die zentrale Forschungsfrage, die Sie beantworten möchten?

Geschlechtsunterschiede in der Biomedizin wurden über Jahrzehnte hinweg sowohl wissenschaftlich als auch gesellschaftlich stark unterschätzt. Frauen sind bis heute in der (prä)klinischen Forschung, in Arzneimittelstudien und der Wirkstoffentwicklung deutlich unterrepräsentiert. Dabei sprechen zahlreiche Erkrankungen – insbesondere des zentralen Nervensystems – für die Notwendigkeit eines geschlechtersensiblen Forschungsansatzes: Viele zeigen eine asymmetrische Prävalenz, unterscheiden sich im Erkrankungsbeginn oder im Verlauf. So treten etwa Autismus-Spektrum-Störungen und Parkinson häufiger bei Männern auf, während Major Depression, Alzheimer oder Multiple Sklerose Frauen deutlich häufiger betreffen. Dennoch basieren viele Diagnosekriterien, Therapiestrategien und Dosierungsempfehlungen weiterhin auf männlichen Normwerten – mit erheblichen Wissenslücken hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit auf Frauen.

Die unzureichende Datenlage zu Frauen in (prä)klinischen Studien – der sogenannte „Gender Data Gap“ – macht es dringend notwendig, geschlechtsspezifische Fragestellungen im biomedizinischen Kontext interdisziplinär in den Fokus zu rücken. Meine zentrale Forschungsfrage bezieht sich auf das bessere Verständnis der geschlechtsspezifischen Unterschiede in Gliazellen (z. B. Astrozyten) und deren Auswirkungen auf die Entwicklung und Funktion des zentralen Nervensystems sowie auf die Entstehung von Gehirnerkrankungen.

Warum sind Gliazellen und Geschlechtsunterschiede in ihrer Funktion ein so bedeutendes, aber bisher wenig bekanntes Forschungsfeld?

Gliazellen wurden lange als reine Unterstützungszellen des Gehirns betrachtet. Es gibt aber mehrere Gründe, den Fokus gezielt auf Gliazellen zu richten, die in enger, bidirektionaler Kommunikation mit Neuronen stehen. Das Überleben, die Reifung und Funktion von Neuronen und Blut-Hirn-Schranke sind stark von der glialen Umgebung abhängig. Gliazellen regulieren synaptische Aktivität, erhalten die Homöostase, modulieren neuroinflammatorische Prozesse und reagieren aktiv auf Verletzungen. 

Ihre Rolle geht weit über eine reine Unterstützungsfunktion hinaus – sie sind entscheidend für die Entwicklung, Funktion und Anpassungsfähigkeit neuronaler Netzwerke. Außerdem zeigt die aktuelle Forschung: Es bestehen signifikante Unterschiede in der Gliazellfunktion zwischen weiblichen und männlichen Individuen. Diese Unterschiede haben tiefgreifende Auswirkungen auf die Neuroplastizität, die Gehirnfunktion und die Entstehung neuropsychiatrischer sowie neurodegenerativer Erkrankungen. Dieses noch wenig erforschte Feld birgt daher enormes Potenzial für neue Erkenntnisse.

Welche neuen Erkenntnisse erhoffen Sie sich für die Grundlagen- bzw. die klinische Forschung?

Wir erwarten Erkenntnisse darüber, wie genetische, epigenetische und hormonelle Faktoren den Aufbau und die Funktion von Gehirnstrukturen beeinflussen – insbesondere im Hinblick auf Gliazellen und deren Interaktionen mit Neuronen – die eine wesentliche Rolle bei der Etablierung einer gesunden und effizienten Konnektivität zwischen verschiedenen Arealen und einer optimalen synaptischen Kommunikation innerhalb der Regionen spielen. Diese Grundlagenforschung soll Impulse für die klinische Forschung liefern, insbesondere für eine geschlechtersensible Diagnostik und Therapie. Ziel ist es unter anderem, die Wirksamkeit und Sicherheit von Medikamenten in Abhängigkeit vom Geschlecht besser zu verstehen und künftig gezielter zu berücksichtigen.

Welche praktischen Konsequenzen könnten Ihre Forschungsergebnisse langfristig für Diagnostik oder Therapie neurologischer Erkrankungen haben – gerade im Hinblick auf geschlechtsspezifische Medizin?

Unsere Forschung kann entscheidend dazu beitragen, klinische Studien geschlechtersensibel zu gestalten – sowohl in der Auswahl der Patientinnen und Patienten als auch in der differenzierten Auswertung der Daten. Indem wir durch präklinische Studien besser verstehen, wie geschlechtsspezifische Unterschiede in Gliazellen die Entstehung und den Verlauf neurologischer Erkrankungen beeinflussen, können wir gezieltere Biomarker identifizieren und Diagnoseverfahren entwickeln, die beide Geschlechter gleichermaßen berücksichtigen. 

Langfristig eröffnet dies die Möglichkeit individualisierter, geschlechterspezifischer Therapieansätze – etwa in der Wahl und Dosierung von Medikamenten. Wir setzen auf enge Kooperationen mit der klinischen Forschung, um diesen Wissenstransfer zu fördern und konkrete Impulse für eine gerechtere, wirksamere medizinische Versorgung zu geben.

 

Summer School “GENIE – Geschlechtsunterschiede in Glia-Neuron-Interaktionen bei Erkrankungen des ZNS”

Was ist das Ziel der Summer School im Herbst 2025?
Die Summer School vom 29.9. bis 2.10.25 folgt den Empfehlungen des deutschen Wissenschaftsrats (2023) zur Stärkung der Geschlechterforschung in den Neurowissenschaften. Ziel ist es, ein tiefgehendes Verständnis für geschlechtsspezifische Unterschiede in Gliazellen zu vermitteln – etwa im Hinblick auf den Einfluss genetischer Faktoren und Sexualhormone auf Glia-Neuron-Interaktionen. Die Teilnehmenden sollen sowohl inhaltlich als auch methodisch befähigt werden, diese Aspekte in ihre eigene Forschung zu integrieren. 

Wer kann teilnehmen – wer ist die Zielgruppe?
Die Summer School richtet sich in erster Linie an Studierende der Biologie, Medizin und angrenzender Fachbereiche. Ziel ist die Vermittlung moderner Methoden wie Zwei-Photonen-Mikroskopie, Fluoreszenzbildgebung und Next-Generation-Sequencing zur Untersuchung von Gliazellen durch teoretische und praktische Übungen (Workshops). Die Veranstaltungen stehen darüber hinaus auch Doktorandinnen und Doktoranden, Postdocs sowie interessierten Wissenschaftlerinnen und Mediziner offen. 

Welche Themen stehen im Fokus?
Wir haben nationale und internationale Expertinnen eingeladen, die in ihrer Forschung geschlechtsspezifische Aspekte bereits aktiv berücksichtigen – u. a. Prof. Julia Schulze-Hentrich (Universität des Saarlandes) und Prof. Birgit Derntl (Universität Tübingen). Themenschwerpunkte sind:

  • Aktuelle Forschung zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in Gliazellen
  • Methodentrainings in Bildgebung und Sequenzierungstechnologien
  • Integration geschlechtsspezifischer Aspekte in Forschungsdesigns
  • Strategien zur Entwicklung geschlechtersensibler Therapien
  • Interdisziplinärer Austausch zwischen Neurowissenschaft, Endokrinologie und Klinik

 

Kontakt

Prof. Dr. Barbara Di Benedetto
AG Neuro-gliale Pharmakologie
Lehrstuhl für Psychiatrie and Psychotherapie
Universität Regensburg
Tel: +49-941-944 8996 
E-Mail: Barbara.Di-Benedetto@klinik.uni-regensburg.de

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