Gefäßchirurgie der Zukunft

Prof. Dr. med. Karin Pfister ist Direktorin der Abteilung für Gefäßchirurgie und Endovaskuläre Chirurgie am Universitätsklinikum Regensburg. Als Fachärztin für Chirurgie und Gefäßchirurgie verfügt sie zudem über die Zusatzbezeichnungen in chirurgischer Intensivmedizin, Qualitätsmanagement und Palliativmedizin. Ihre klinischen und wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen in multimodaler Ultraschalldiagnostik und Behandlung komplexer Aortenerkrankungen – sowohl offen-chirurgisch als auch endovaskulär –, insbesondere bei Aneurysmen und Dissektionen. Darüber hinaus ist sie auf komplizierte Eingriffe im Bereich der peripheren und supraaortalen Gefäße spezialisiert, etwa bei schwerer peripherer arterieller Verschlusskrankheit, diabetischem Fußsyndrom, venösen Verschlusserkrankungen sowie bei Infektionen von Gefäßprothesen und Dialysezugangsproblemen.
Karin Pfister war 2023 Präsidentin der German-Japanese Vascular Surgeons und hat für 2024/2025 den Vorsitz der Vereinigung der Bayerischen Chirurgie übernommen. Sie ist Mitautorin der deutschen Leitlinie zur Behandlung des Bauchaortenaneurysmas und hat die chirurgische Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Aortenerkrankungen sowie Problemen bei Dialysezugängen zu einem zentralen Forschungsschwerpunkt ihrer Abteilung gemacht.
Frau Prof. Pfister, welche Aufgaben gehen mit der Position als Vorsitzende der Vereinigung der Bayerischen Chirurgie e. V. einher?
Die Hauptaufgabe ist die Ausrichtung der Jahrestagung der Vereinigung der Bayerischen Chirurgie e. V. 2025 in Regensburg. Ich darf dies nach 102 Jahren als erste Frau tun. Es ist mir besonders wichtig, die Attraktivität einer bayerischen Chirurgie unabhängig von den einzelnen Spezialdisziplinen zu zeigen, um damit gezielt junge Ärztinnen und Ärzte anzusprechen. Das Motto, das ich gewählt habe, ist "Achtsamkeit auf Alle" - das bezieht nicht nur ÄrztInnen aus allen Fachdisziplinen der Chirurgie mit ein, sondern auch alle Medizinstudierende, Pflegekräfte, alle Assistenzberufe und industrielle Partner. Daher habe ich mich mit Frau Universitätsprofessorin Dr. Rohlffs und Frau Professorin Dr. Schierling aus meiner Abteilung zusammengetan. Dazu kommen zahlreiche Fachbereichsvertreter aus den einzelnen Fachdisziplinen, um mit unseren Standpunkten in Politik und Gesellschaft Gehör zu finden.

Welche Standpunkte sind das?
Die Chirurgie ist ein faszinierendes und forderndes Fach – für Männer und Frauen. Mehr denn je werden wir heute gebraucht! „Neben der gesellschaftlichen Anerkennung“ benötigen wir Strukturen, um Begeisterung mit Weiterbildung, Wissenschaft und Familie zu verbinden. Überbordende Administration und Ökonomie machen vieles kaputt. Im UKR ist ein Leitsatz: Spitze in der Medizin – menschlich in der Begegnung! Wissen ist Macht und schafft Fortschritt. Frauen müssen in Studien stärker berücksichtigt werden. Nur 5 % der Teilnehmer von Studien aus dem Bereich der Gefäßchirurgie sind weiblich. Das heißt, wir wissen viel zu wenig über die geschlechtstypischen Besonderheiten. Bei Herzerkrankungen weiß man schon deutlich mehr. Etwa dass Frauen bei einem Herzinfarkt eine deutlich schlechtere Prognose haben, weil die Symptome oft nicht frühzeitig erkannt werden. In der Gefäßchirurgie gibt es ähnliche Probleme. Außerdem wurden sämtliche OP-Techniken und Medizinprodukte für Männer entwickelt, das heißt, sie sind häufig zu groß für den weiblichen Körper und deren Gefäße, sodass etwa die minimalinvasive Versorgung für Frauen manchmal nur erschwert möglich ist. Aber auch umgekehrt sind die Instrumente zum Teil nur für die großen Hände von männlichen Ärzten entwickelt. Hier gibt es noch viel zu tun.
Was müsste sich zusätzlich ändern?
Bei Gefäßerkrankungen spielt die Prävention und Aufklärung sowie die Eigenverantwortung eine ganz wichtige Rolle. Die meisten der Gefäßerkrankungen sind sehr stark mit verschiedenen Risikofaktoren assoziiert. Das gilt ganz allgemein für eine Reihe von Erkrankungen. Auch Krebs nimmt beispielsweise mit Übergewicht zu.
Welche Risikofaktoren sind das?
Neben dem Alter sind das Nikotinkonsum, hohe Cholesterinwerte, ungesunde Ernährung, wenig Bewegung und ein hoher und schlecht eingestellter Blutdruck und Blutzucker. Das Alter können wir nicht beeinflussen, alle anderen Faktoren aber schon.
Würden Präventionsprogramme hier helfen?
Unser Wunsch ist, mehr auf Präventionsprogramme zu setzen. Dazu benötigen wir eine starke Fachgesellschaft, um auf den Wert einer Prävention aufmerksam zu machen. Im Gegensatz zu den skandinavischen Ländern wird in Deutschland Prävention noch immer nicht ernst genommen.
Gibt es noch einen weiteren wichtigen Punkt?
Ein weiterer Punkt ist die stärkere Etablierung von Zweitmeinungen. Wir sind der Meinung, dass man nicht alles operieren muss. Die medikamentöse Behandlung und Lebensstiländerung ist heute die Grundlage jeder gefäßchirurgischen Intervention oder Operation und sollte ihr vorausgehen oder sie zumindest begleiten. Aus Studien wissen wir, dass heute viel zu viel interveniert und operiert wird, was nicht selten Komplikationen und ein noch schnelleres Voranschreiten der Erkrankung bewirkt. Auf der anderen Seite gibt es – etwa bei DER großen Volkskrankheit schlechthin, der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit – viel zu wenige Maßnahmen zur Reduktion der Risikofaktoren.
Welche Rolle spielt die periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK) in Ihrer Abteilung?
Die pAVK – auch als Schaufensterkrankheit bezeichnet – spielt eine ganz zentrale Rolle. Obwohl Herz-Kreislauf-Erkrankungen die häufigste Todesursache darstellen, werden Erkrankungen wie die periphere arterielle Verschlusskrankheit und deren Folgen statistisch kaum sichtbar, obwohl sie eine hohe Morbidität und Mortalität verursachen. In ihrem Verlauf kommt es zu offenen Wunden, meistens am Bein, wobei die Patienten ein hohes Amputationsrisiko haben. In Deutschland sind schätzungsweise 1 Million Menschen betroffen. In der Altersspanne zwischen 45 und 75 Jahren rund jeder Vierte – mit 80.000 Amputationen pro Jahr. Aber auch ohne Amputation kann die Lebensqualität durch die eingeschränkte Gehstrecke, Schmerzen oder auch Potenzstörungen deutlich beeinträchtigt sein.
Todesursachen wie pAVK-bedingte Komplikationen (z. B. Infektionen, Amputationen, Schlaganfälle) werden häufig anderen Diagnosen wie Herzinfarkten oder Atemwegserkrankungen zugeschrieben. Fehlende Obduktionen und unzureichende Leichenschauen verstärken diese Problematik. pAVK wird im Vergleich zu Herz- oder Hirnerkrankungen in medizinischen Leitlinien, der Gesundheitsversorgung und öffentlichen Debatten stark vernachlässigt – obwohl sie Millionen Menschen betrifft und schwerwiegende Folgen hat.
Hier bestehen erhebliche Mängel in der Versorgung: Nur wenige Betroffene erhalten strukturiertes Gehtraining oder eine Anleitung dazu, werden zur Rauchentwöhnung motiviert oder adäquat medikamentös therapiert. Die Behandlung entspricht damit nicht dem Stand der aktuellen Forschung.
Was ist Ihr Fazit zur Behandlung der pAVK?
Wir benötigen ein sektorenübergreifendes und ganzheitliches Management. Die effektive Behandlung der pAVK erfordert interdisziplinäre Zusammenarbeit, strukturiertes „Disease Management“ sowie eine Kombination aus konservativen, chirurgischen und interventionellen Maßnahmen – ambulant wie stationär. Vor allem aber gilt es, die Risikofaktoren zu behandeln, damit es gar nicht erst so weit kommt. Ein Großteil der Betroffenen leidet unter Diabetes. Die erhöhten Blutzuckerwerte der Betroffenen zerstört auf Dauer die peripheren Gefäße. Die pAVK kann als ein zentrales Symptom einer systemischen Erkrankung der gesamten Gefäße gesehen werden.
Das heißt, in einem frühen Stadium kann über die Intervention bei den Risikofaktoren viel erreicht werden?
Ja, in einem frühen Stadium kann man noch viel erreichen – indem man beispielsweise mit dem Rauchen aufhört, sich mehr bewegt, gesund ernährt und Blutfette, Blutdruck und Blutzucker medikamentös gut eingestellt werden. In einem späteren Stadium muss man mit Ballon und Katheter intervenieren, außerdem gibt es moderne OP-Techniken, um die Gefäße wieder durchlässiger zu machen. Aber wenn es erst einmal so weit gekommen ist, dass solche Eingriffe nötig sind, kann man sagen, dass ein 6- bis 8-fach erhöhtes Risiko besteht, in den nächsten 10 Jahren zu versterben. Einfach, weil dann die gesamten Gefäße bereits stark zerstört sind. Das ist eine schlechtere Prognose als bei vielen Tumorerkrankungen. Trotzdem kann sich eine Lebensstiländerung auch in fortgeschrittenen Stadien noch positiv auswirken.
“Mehr Bewegung, gesunde Ernährung und Rauchstopp – diese einfache Maßnahmen haben eine enorme Wirkung auf die Gefäßgesundheit.”
Prof. Pfister
Wie wichtig ist die Palliativmedizin für die Betroffenen?
Von der pAVK sind oft auch sehr alte Patientinnen und Patienten betroffen und irgendwann stellt sich die Frage nach der Lebensplanung (advance care planing) und danach, wie weit man mit der Behandlung wirklich gehen sollte. Man muss nicht jeden Betroffenen amputieren. Wer sich bewusst dagegen entscheidet, darf – mit der entsprechenden begleitenden Schmerztherapie – damit auch versterben. Oft ist die Gesamtsituation schon so schlecht – etwa, weil die Betroffenen sowieso schon nicht mehr mobil sind und in immer kürzeren Abständen ins Krankenhaus kommen, Pflege benötigen und sich selbst nicht mehr helfen können. Bei solchen Patientinnen sehen wir, dass die Gesamtspirale schnell massiv nach unten geht. Wer alt ist, viele Erkrankungen hat, vielleicht auch noch eine Demenzerkrankung hat, dem kann oft auch mit einer Amputation nur noch wenig zusätzliche Lebenszeit geschenkt werden. Der Schaden eines Beinverlustes ist dann um so größer.
Welche Rolle spielt die Aortenchirurgie im Klinikalltag?
Die Aortenchirurgie mit der Versorgung von Aortenaneurysmen oder -dissektionen ist im Vergleich zur Volkskrankheit pAVK eher selten. Gerade an einem Zentrum wie dem UKR spielt sie aber gemeinsam mit der Herzchirurgie seit vielen Jahren eine große Rolle. Bereits mein Vorgänger Professor Dr. Piotr Kasprzak hat ab 1995 offene und endovaskuläre Techniken etabliert, sodass wir hier sehr viel Erfahrung sammeln konnten. Technische Entwicklungen wie individuell gefertigte Aortenspezialprothesen mit Fenstern und Ärmchen für die Eingeweide- und Nierenarterien sowie die Kopfgefäße sind für die Versorgung vom Herzen bis zu den Beinen seit fast 20 Jahren verfügbar. Offene Eingriffe erleben trotz der Invasivität eine Renaissance und sind bei einer Infektion mitunter die einzige Chance, zu überleben. Ähnlich wie bei der Organtransplantation nutzen wir hier die Gewebespende von Gefäßen.
Die Medizinische Fakultät der Universität Regensburg hat 2024 zur Verstärkung dieser Zentrumschirurgie eine eigene Professur für Aortenchirurgie innerhalb der Gefäßchirurgie eingerichtet und Frau Professorin Dr. Fiona Rohlffs aus Hamburg dafür gewinnen können, die zudem einen Schwerpunkt in der Behandlung von Gefässmalformationen hat.
Welche aktuellen wissenschaftlichen Fortschritte haben die Gefäßchirurgie in den letzten Jahren maßgeblich verändert?
Es gibt zwei herausragende Fortschritte im Zusammenhang mit der verbesserten Bildgebung. Zum einen der Übergang von offenen zu endovaskulären, d.h. minimalinvasiven Eingriffen, vergleichbar mit einer Herzkatheteruntersuchung. Zum anderen die sogenannten Hybrid-Eingriffe in einem Hybrid-Saal, in dem ein Operationssaal mit einer fest installierten Röntgenröhre zur Verfügung steht. Auch die Diagnostik hat sich völlig verändert. Heute steht die Ultraschalluntersuchung mit all ihren Möglichkeiten weit im Vordergrund.
Welche Rolle spielt die Früherkennung mit Gentests und wie steht es um die personalisierte Medizin?
Gefäßerkrankungen sind Erkrankungen, die durch Risikofaktoren wie erhöhte Blutfettwerte, Diabetes, Bluthochdruck, Rauchen und höheres Lebensalter bedingt sind. Die Früherkennung mittels Ultraschall und vor allem die Behandlung der Risikofaktoren mit Raucherentwöhnung und Motivation zum Rauchstopp spielen eine entscheidende Rolle. Nur wenn diese Risikofaktoren adäquat behandelt werden und eine Lebensstiländerung erreicht wird, kann ein langfristig zufriedenstellendes Ergebnis erzielt werden, das für die einzelnen Patientinnen und Patienten Lebensqualität bedeutet. Gentests spielen derzeit noch eine untergeordnete Rolle, wobei gerade die Veranlagung für erhöhte Blutfettwerte, Blutdruck und Diabetes vererbt werden kann. Bei einem vermehrten Vorkommen von Gefäßerkrankungen in der Familie sollte deshalb genauer daraufhin untersucht werden.
Was sind die größten wissenschaftlichen Herausforderungen? Welche Rolle kann die KI in der Gefäßchirurgie spielen?
Roboter, Algorithmen, die weltweite Vernetzung und Möglichkeiten der Telemedizin werden auch die Gefäßchirurgie in Zukunft verändern. Die individualisierte Medizin ist und bleibt eine Herausforderung, die durch künstliche Intelligenz unterstützt werden kann, aber letztlich durch den Arzt und die Ärztin umgesetzt wird. Gerade in Grenzbereichen am Ende des Lebens sind ethische Fragen, aber auch der Übergang zu einer begleitenden, also palliativen Therapie entscheidend. Zeitlich begrenzte Heilversuche (neudeutsch „time limited trial”) können hier Klarheit schaffen. Es bedarf immer einer gemeinsamen Entscheidung, d.h. einer Aufklärung des Patienten mit informed consent oder shared decision making. Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung können wichtige Elemente der eigenen Lebensplanung sein (advance care planning).
Kontakt und Links
Prof. Pfister: Abteilung für Gefäßchirurgie und Endovaskuläre Chirurgie
German-Japanese Vascular Surgeons
Vereinigung der Bayerischen Chirurgie
Jahrestagung der Vereinigung der Bayerischen Chirurgie e. V. 2025
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