Wenn ältere Menschen in den Medien auftauchen, dann als Best Ager, an den schönsten Plätzen der Welt, wo sie ihren Ruhestand genießen. Sie werden braungebrannt in einer Art Dauerurlaub beim entspannten Nichtstun oder beschäftigt mit abenteuerlichen Hobbys gezeigt oder alternativ, gemeinnützig aktiv – entweder ehrenamtlich für die Gesellschaft oder den eigenen Kindern großzügig zur Seite stehend. Diese Darstellungen offenbaren ein homogenisierendes Altersbild, das einer bürgerlichen, eher gut situierten Klientel. Tatsächlich fallen aber viele ältere und vor allem alleinstehende und -lebende Frauen völlig aus diesem Raster.

Altersarmut reicht bis weit in die mittleren Schichten 

Im Rahmen des DFG-Forschungsprojektes „Prekärer Ruhestand. Arbeit und Lebensführung von Frauen im Alter“ hat Dr. Esther Gajek vom Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft der Universität Regensburg zusammen mit ihrer Kooperationspartnerin Prof. Dr. Irene Götz vom Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der LMU München und drei Doktorandinnen rund 50 armutsgefährdete Frauen im Alter von 60 bis 84 Jahren in München zu ihrer aktuellen Lebenssituation befragt. Die Forscherinnen wollten wissen, wie Menschen an der Armutsgrenze ihren Alltag gestalten. Die zwei wichtigsten Ergebnisse:

  1. Die Scham der armutsgefährdeten Frauen war so groß, dass sie ihre finanzielle Situation selbst vor ihrem engsten Umfeld – den Freundinnen und den eigenen Kindern – geheim hielten und überspielten.
  2. Altersarmut reicht bis weit in die mittleren Schichten und ist nicht nur ein Thema von Frauen, die spät nach Deutschland migriert sind und im Niedriglohnsektor arbeiten.

Möglichst unterschiedliche Teilnehmerinnen 

Für die Interviews wurden möglichst unterschiedliche Teilnehmerinnen ausgewählt. Die Forscherinnen erhielten Zugang zu Interviewpartnerinnen durch die Vermittlung von Schuldnerberatung, Kleiderhilfe oder anderen sozialen Einrichtungen, vor allem aber durch persönliche Kontakte einer Physiotherapeutin. Mit dabei waren zum Beispiel eine ehemalige Erzieherin, eine Buchhändlerin, eine Reisebürokauffrau, eine Beamtin, eine Verlagsangestellte, eine leitende Krankenpflegerin, eine Therapeutin, eine Reinigungskraft, eine Straßenzeitungsverkäuferin und eine Künstlerin. Frauen, die an der Seite eines gutverdienenden Ehemanns nur Teilzeit gearbeitet hatten, wurden ebenso befragt wie Frauen, die nie verheiratet waren und immer in Vollzeit gearbeitet hatten. Manche waren verwitwet, andere geschieden oder noch in Beziehungen. Die einzige Voraussetzung für die Teilnahme an dem Projekt war, dass die Frauen allein in einem Haushalt wirtschafteten und nur ein Einkommen rund um die Armutsgefährdungsgrenze zur Verfügung hatten. „Als die Interviews stattfanden, wurde diese Grenze in München auf 1350 Euro geschätzt. Die meisten der Interviewpartnerinnen hatten weitaus weniger Geld pro Monat. Ihre Renten lagen zwischen 200 und 1300 Euro. Rücklagen waren fast durchweg aufgebraucht oder nicht vorhanden“, so Esther Gajek.

Geschlechtsspezifisches Gefälle 

Rund 14,7 Prozent der Menschen in Deutschland sind laut Statistischem Bundesamt aktuell von Armut bedroht. In der Altersgruppe ab 65 Jahren steigt der Anteil auf 18,3 Prozent. Frauen sind insgesamt stärker betroffen: Bei Männern liegt die Armutsgefährdung bei 15,9 Prozent, bei Frauen bei 20,3 Prozent. Dies spiegelt sich auch in einem geschlechtsspezifischen Unterschied des Alterseinkommens dem sogenannten „Gender Pension Gap“ wider. Als Alterseinkünfte zählen Alters- und Hinterbliebenenrenten und -pensionen sowie Renten aus individueller privater Vorsorge. Das geschlechtsspezifische Gefälle lag im Vorjahr laut Statistischem Bundesamt bei 27,1 Prozent. Die Alterseinkünfte von Frauen waren demnach durchschnittlich mehr als ein Viertel niedriger als die von Männern. Die Forscherinnen nutzen die durchschnittlichen Bestandsrenten für Deutschland, um die Ergebnisse ihrer Studie einzuordnen. 2021 betrug die Durchschnittsrente von Männern aus den alten Bundesländern 1218 Euro, die von Frauen 809 Euro. „Diese Zahlen liegen deutlich unter der Armutsgefährdungsschwelle, besonders für München“, sagt Esther Gajek.

Vielfältige Risikofaktoren

In den Interviews mit den Betroffenen offenbarten sich vielschichtige ungünstige Verkettungen in der Biografie der Betroffenen. So zeigten sich strukturelle Benachteiligungen – die also gesellschaftlich bedingt sind – in Form einer beruflichen, finanziellen und sozialen Schlechterstellung als Folge einer Scheidung oder der Situation als Alleinerziehende, Altersdiskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, die Wohnungsnot und generell hohe Preise in Großstädten wie München, ferner die Informationspolitik der Politik bezüglich sozialer Rechtslagen sowie Vorurteile gegenüber Sozialhilfeempfängerinnen. Zusätzlich traten weitere Risikofaktoren ans Licht. Neben einer geringen Bildung und mangelnden Qualifikationen waren das ein schlechter Gesundheitszustand sowie ein Migrationshintergrund. Aber auch der Wohnort spielte eine Rolle. In München, wo die Interviews stattfanden, ist ein Euro weniger Wert als in den meisten ländlichen Räumen, aber auch in den meisten anderen Städten Deutschlands. 

Generation der Kriegs- und Nachkriegskinder

Das Gros der Interviewten stammte aus der Generation der Kriegs- und Nachkriegskinder und zeigte einige typische Gemeinsamkeiten. Im Vergleich zu späteren Generationen wurde bei Mädchen oft mit Aussicht auf eine Heirat an einer Ausbildung gespart. Charakteristisch war zudem eine traditionelle Rollenverteilung in der Ehe, in der sich die Frau um Kinder, betagte Eltern und später den kranken Ehemann kümmern mussten und, wenn überhaupt, dann oft nur Teilzeit arbeiten konnte. Nach wie vor ist der Niedriglohnsektor weiblich. Die Höhe der Rente ist aber abhängig vom Gehalt und der Erwerbszeit. Teilzeitarbeit erschwert zudem Aufstiegschancen. „Um das Thema Rente und Geld haben sich die Befragten, oft zu ihrem eigenen Bedauern, erst zu spät gekümmert“, so Gajek.

Ausschluss aus dem Erwerbsleben

„Das Leben der Befragten ist gekennzeichnet durch mehrfache Ausschlüsse“, fasst die Wissenschaftlerin die Ergebnisse der Studie zusammen. Einer der offensichtlichsten ist der Ausschluss aus dem Erwerbsleben. Durch den Verlust ihrer Arbeit, oft weit vor Rentenbeginn, kommt für die Betroffenen, neben der finanziellen Notlage, auch das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden und überflüssig zu sein. Wer weiterarbeiten möchte, begegnet Altersdiskriminierung, etwa durch die Schwierigkeit, im fortgeschrittenen Alter noch einen Job zu bekommen. In der Telefonakquise, also unsichtbar, hatte eine der Befragten die einzige Möglichkeit eines Zusatzverdienstes gesehen. Allerdings handelt es sich dabei um eine körperliche wie mental anstrengende Tätigkeit, die sie nicht mehr lange ausüben könne. Jobs mit einer hohen Sichtbarkeit wie im Verkauf oder als Sprechstundenhilfe in Arztpraxen bekomme man dagegen schwer. Wahrscheinlich, weil es gewisse Tabus gäbe, und man ältere Menschen nicht an so prominenter Stelle sehen wolle, folgert die Kulturwissenschaftlerin. Das könne sich jetzt aber mit dem Fachkräftemangel ändern.

Ausschluss aus sozialen Aktivitäten

Hinzu kam bei den Befragten der Ausschluss aus sozialen Aktivitäten. Wenn Geld fehlt, kann der Ruhestand eben nicht mit Urlauben oder kulturellen Events genossen werden. Durch ihren Geldmangel fielen die Frauen förmlich aus ihrem gewohnten Umfeld. Die Interviewten brachen langjährige Freundschaften ab und zogen sich aus ihrem Sozialleben zurück, weil sie nicht mehr mithalten und mitreden und Einladungen und Geschenke nicht erwidern konnten. Oft reichte es nicht einmal für eine Fahrkarte zu den engsten Verwandten. „Es zeigte sich fast durchgehend, dass Armut aus Scham verschwiegen und versteckt wird, wo immer möglich, selbst vor den eigenen Kindern und engsten Freunden“, so Gajek. Die Befragten würden sich lieber einschränken und Verzicht üben. Vor allem Frauen, die aus einer bürgerlichen Existenz gefallen waren, würden sich für ihren sozialen Abstieg schämen und gäben sich selbst die Schuld dafür.

Altruismus-Bild versus öffentliche Thematisierung

Dabei zeigte sich, dass sie sich mit dem gesellschaftlichen noch immer vorherrschenden Bild der altruistischen und um jeden Preis unterstützenden Großmutter identifizierten. Selbst mit ihrer geringen Rente war es ihnen noch wichtig „zu geben“. Etwa damit der Enkel Nachhilfestunden nehmen und es später besser haben sollte. Eine Interviewte berichtete, dass sie gerne ihren Enkel betreuen würde, aber dafür von ihrer Tochter kein Geld verlangen wollte. Weil sie das Geld aber benötigte, arbeitete sie stattdessen in einem Call-Center, während ihre Tochter eine fremde Person für die Betreuung ihres Kindes bezahlte. Eine kreative Lösung des Problems, in dem die Tochter die Mutter für die Betreuung des Kindes zahlt, war für die Betreffende nicht denkbar. Aber nicht jede der Frauen verbarg ihre Lage. Zwei Interviewte, beide aus einem mittleren Milieu stammend, thematisierten ihre Bedürftigkeit öffentlich und fanden kreative Lösungen, um Unterstützung zu bitten und Altersarmut als ein kollektives, politisch nicht ausreichend angegangenes strukturelles Problem zu begreifen und verhandelbar zu machen und somit über Selbstvorwürfe und Schuldgefühle hinwegzukommen.

Strukturelle Ursachen

Generell hätten die Entscheidungen zum Thema Arbeitsmarkt und Renten der deutschen Politik der letzten 20 Jahren viele Menschen – auch aus der Mittelschicht – in die Altersarmut geführt. „Ganz konkret gehört dazu die Deregulation des Arbeitsmarktes mit der Zunahme von verbilligten, prekären und oft nicht sozialversicherten Jobs und projektförmigen Arbeitsverhältnissen, die sich negativ auf die Rentenhöhe auswirken, sowie die Rentenreform, die zur Absenkung des gesetzlichen Rentenniveaus führte“, so Esther Gajek. Diese Reformen kamen zeitgleich seit den 2000er Jahren mit hohen Arbeitslosenzahlen, steigenden Lebenshaltungskosten, teilweise explosionsartig steigenden Mieten und sinkender Kaufkraft, besonders in den Städten. „Dadurch wurden besonders diejenigen benachteiligt, die keine finanziellen Rücklagen (Erbschaften, Ersparnisse, private Zusatzversicherung oder Wohneigentum) zur Abfederung finanzieller Engpässe zur Verfügung haben“, sagt Esther Gajek. Gerade Wohneigentum verbessere die Situation deutlich. Nicht nur, weil die monatliche Belastung dadurch erheblich sinke, sondern auch weil es vor der Willkür einer Mieterhöhung oder sogar -kündigung schütze. „Die Wohnung war für alle Interviewten der zentrale Schutzraum, selbst wenn sie sich vor allem anderen zurückgezogen hatten“, so Gajek. Ein Umzug ist meist mit einer höheren Miete oder kleinerem Wohnraum verbunden und gleichzeitig mit dem Verlust einer bekannten Infrastruktur. Etwa was Einkaufsmöglichkeiten oder Arztpraxen angeht.

Altersarmut enttabuisieren

Die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland öffne sich immer weiter und die Handlungsmacht der von Altersarmut Betroffenen werde damit immer geringer. Sie seien so mit dem Überleben beschäftigt und schämten sich, weil sie sich selbst verantwortlich fühlten. Dabei handelt es sich, das ist Esther Gajek wichtig zu betonen, um ein gesellschaftliches Problem, das mit Geschlechterrollen und Altersbildern zu tun hat, die es aufzulösen gilt. Mit ihrer Studie will die Forscherin außerdem das Thema weibliche Altersarmut enttabuisieren und öffentlicher machen. „Für uns ist es auch wichtig, Prophylaxe zu betreiben, d.h. dass wir den Studierenden neben allem Fachlichen auch mitgeben, dass sie sich mit dem Thema Geld und Rente frühzeitig beschäftigen sollen. Denn eines zeigte sich fast durchgängig: Die wenigsten der Befragten kannten sich mit diesem Thema gut aus.“

Wer gilt als armutsgefährdet?

Als armutsgefährdet gilt eine Person, wenn ihr Einkommen (Nettoäquivalenzeinkommen) weniger als 60 % des mittleren Einkommens (Medianeinkommen) beträgt. Die Armutsgrenze, genauer gesagt die Armutsgefährdungsschwelle, hängt dabei von der Anzahl und dem Alter der Haushaltsmitglieder und sehr stark vom Wohnort ab. Grundlage für die Ermittlung des Einkommens einer Person ist die möglichst umfassende Messung des verfügbaren jährlichen Haushaltsnettoeinkommens. Das Haushaltsnettoeinkommen wird in ein gewichtetes Pro-Kopf-Einkommen, das sogenannte Nettoäquivalenzeinkommen, umgewandelt. Auf dieser Basis kann die Einkommensverteilung in Deutschland sowie der Anteil der von Armut bedrohten Bevölkerung (Armutsgefährdungsquote) dargestellt werden.
Während für die Definition von Armutsgefährdung die finanziellen Ressourcen bei der Beschreibung der Lebenslage ausschlaggebend sind, geht es bei der Messung der materiellen und sozialen Entbehrung vor allem um eine Bewertung (Selbsteinschätzung) der eigenen Lebensbedingungen. Die Betroffenen sind zum Beispiel nicht in der Lage, ihre Rechnungen für Miete, Hypotheken oder Versorgungsleistungen zu bezahlen, eine einwöchige Urlaubsreise zu finanzieren oder einmal im Monat im Freundeskreis oder mit der Familie etwas essen oder trinken zu gehen. Quelle: Statistisches Bundesamt

 

Kontakt:

Dr. Esther Gajek
Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft
Universität Regensburg
Tel.: +49 (0)941 943 3638
E-Mail: Esther.Gajek@sprachlit.uni-regensburg.de

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