Comics und Graphic Novels sind viel mehr als Superheldinnen- und Superheldengeschichten aus dem Marvel-Universum. 

Im Zusammenspiel von Zeichnungen und Texten erzählen sie eindrucksvoll von dramatischen menschlichen Erfahrungen – am bekanntesten vielleicht Art Spiegelmans Maus: A Survivor's Tale, für das der Cartoonist den Pulitzer-Preis erhielt.
 

In Frankreich und der frankophonen Welt thematisieren Comics und grafische Romane häufig déplacements, zu Deutsch etwa „Deplatzierungen“, also Ortswechsel: Es geht um Migration, Nomadismus, Exil, Reisen, Flucht, die Suche nach Heimat, das Erleben historischer Umbrüche oder auch das Gefühl, innerlich oder äußerlich nicht am richtigen Ort zu sein. 

Professorin Dr. Beatrice Schuchardt, Lehrstuhlinhaberin für Spanische und französische Kultur- und Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg (UR), widmet sich gemeinsam mit Beitragenden verschiedener Universitäten in der von ihr organisierten Ringvorlesung im Sommersemester 2025 an der UR der Bildsprache und spezifischen Themen von Comics und Graphic Novels aus der französischsprachigen Literatur.

Die Wissenschaftlerin forscht zu verschiedenen Themen und Gattungen, darunter zu Migration und Migrationserfahrung in Filmen, Romanen, Comics und Graphic Novels aus Spanien, Lateinamerika und der Frankophonie, aber auch zur Vermittlung von ökonomischem und historischem Wissen über Comics, Graphic Novels, den Roman und das Theater.

Interview

Warum eignen sich Comics und Graphic Novels so gut für das Erzählen von „Bewegung“ und Ortswechsel, Frau Professorin Schuchardt?

Weil Comics und Graphic Novels Geschichten in Einzelbildern (so genannten „Panels“) vermitteln, die Einzelbilder aber gleichzeitig zu Bildsequenzen verknüpft sind. Die Verknüpfung ergibt sich nicht nur aus der Leserichtung, sie wirkt auch seitenübergreifend. Dadurch entsteht der Eindruck von Bewegung. Indem jedem Element des Comics (Einzelbild, Sprechblasen, Figuren) eine bestimmte Position auf der Bildseite zugewiesen wird, die sich von Bild zu Bild verändert, sind die Elemente zu einem dynamischen Raum-Zeit-Gefüge verbunden. 

Das macht Comics so geeignet, Bewegung und Ortswechsel, Exil und Migration sowie aktuelle Umbruch- und Krisensituationen darzustellen, aber auch solche aus der Vergangenheit. Anders als in Deutschland richten sich Comics in Belgien und Frankreich seit ihren Anfängen vor allem an ein erwachsenes Publikum. Interessanterweise bemühen sich frankophone Comics und Graphic Novels seit 2010 verstärkt, den Erwachsenen kindliche Blicke auf die oben genannten Themen nahe zu bringen. Sie sind in der Lage, zwischen Generationen zu vermitteln.

Wie zeigen Bilder und visuelles Erzählen, wie es sich anfühlt, fern von zuhause oder zwischen mehreren Orten zu sein?

Das gelingt zum Beispiel, indem sie Darstellungsformen aus verschiedenen Kulturräumen verbinden und daraus eine neue Ästhetik erschaffen. Comics sind auch Kunst und haben zum Beispiel die Pop-Art, darunter Andy Warhol, inspiriert. Insbesondere Graphic Novels haben einen literarisch-künstlerischen Anspruch und brechen aus dem herkömmlichen Layout des Comics und ihren Bildrastern aus. Sie nutzen ihr künstlerisches Potenzial, um die Erfahrung des Verlustes von Heimat erlebbar zu machen.

Haben Sie ein Beispiel?

Ein gutes Beispiel ist die Graphic Novel Les oiseaux ne se retournent pas (2020; dt.: Vögel drehen sich nicht um) von Nadia Nakhlé, die am 27. Mai zu uns an die Universität Regensburg kommt und ihr Werk vorstellt. Um zum Beispiel die Fluchtgeschichte ihrer zwölfjährigen Protagonistin Amel aus Syrien nachvollziehbar zu machen, kombiniert sie die für den arabischen Raum typische Ornamentik mit Anspielungen auf Gemälde der europäischen Kunstgeschichte, zum Beispiel auf eines von Salvador Dalí. So werden der Heimatverlust und die gefährliche Flucht eines Kindes in Bilder übersetzt. Die Perspektive ist konsequent subjektiv. 

Visuell werden Träume, Gefühle, Hoffnungen, Ängste, aber auch Grenzerfahrungen wie der Schiffbruch vermittelt. Textuell ist Nakhlés Graphic Novel sehr poetisch: Der zentrale Bezugspunkt ist ein bekanntes persisches Gedicht aus dem 12. Jahrhundert, „Die Konferenz der Vögel“. Aus all dem zusammen entsteht eine individuelle und emotional berührende Erfahrungswelt.

Sind Geschichten über déplacement in Comics immer ernst?

Nein, überhaupt nicht. Wir finden auch sehr viel Humor. Eine in Frankreich auch deswegen erfolgreiche Comic-Reihe ist L’Arabe du Futur (2015-2022; dt. Der Araber von morgen) von Riad Sattouf. Hier wird der in vielen frankophonen Comics thematisierte Ortswechsel vom arabischen Raum nach Europa auf originelle Weise umgekehrt: Weil es mit der Uni-Karriere des Vaters in Frankreich nichts wird, zieht ein kleiner Junge in 1980er Jahren von der Bretagne erst nach Lybien, dann nach Syrien, in das Heimatdorf des Vaters. In Lybien ist er mit seinen langen blonden Haaren und den blauen Augen zunächst die Attraktion des Wohnviertels: Die Menschen bleiben fasziniert stehen und wollen seinen ‚goldenen Schopf‘ berühren. 

Das ist visuell auf erheiternde Weise umgesetzt, weil das gezeichnete Alter-Ego Satouffs stark an den kleinen Lord aus der gleichnamigen Verfilmung erinnert. Auch das Unverständnis der französischen Mutter angesichts bestimmter kultureller Codes und Gebräuche wird humoristisch verpackt. Sattouf lässt die Gaddafi-Zeit mit ihrer teils kuriosen Stadtplanung, aber auch mit ihrer wirtschaftlichen Not aufleben. Humor und ernste Themen wechseln sich dabei ab, nicht nur in diesem Beispiel.

Können Comics über „Deplatzierungen“ helfen, reale Themen wie Migration, Flucht oder Krieg besser zu verstehen?

Ja, absolut. Viele Comics oder Graphic Novels sind autobiographisch inspiriert und vermitteln Einzelschicksale. Dadurch zeigen sie die Vielfalt der individuellen Perspektiven auf Ereignisse, von denen wir vielleicht nur eine Version kennen oder die wir durch die Medien eher aus der Ferne erleben. Wie Nakhlés Graphic Novel zeigt, können Comics und Graphic Novels uns subjektive Blicke auf bisher wenig beachtete Erfahrungs- und Gefühlswelten eröffnen, zum Beispiel auf die von Kindern als Opfer von Krieg und Vertreibung, die Traumatisches erleben. 

Poetisch-musikalische Einblicke in die Werke von Nadia Nakhlé auf https://vimeo.com/nadianakhle

Gerade traumatische Erfahrungen zeichnet aus, dass sie sich nur schwer in eine Erzählung überführen lassen. Sie sind immer nur in Bruchstücken und Bildfragmenten zugänglich. Durch ihre Zusammensetzung aus Einzelbildern erscheinen mir Comics besonders geeignet, Traumata aufzugreifen, was sie auch tun. Auch das Trauma ist ja ein Moment der Deplatzierung.

Wenn man sich mit diesen Themen in Comics beschäftigen möchte – womit sollte man anfangen?

Das hängt natürlich ganz vom individuellen Interesse und Geschmack ab. Insbesondere im französischsprachigen Raum gibt es inzwischen Comics und Graphic Novels zu so ziemlich jedem Thema. Dürfen es Beispiele auf Französisch sein? Dann empfehle ich Eltern, die ein Kind mit Lese-Rechtschreibschwäche haben, Zaza Bizar (2021) von Nadia Nakhlé. Da wird die ‚Diagnose-Maschine‘ ebenso in Frage gestellt wie die Erwachsenenwelt mit ihren Normen und Erwartungen. Auch hier erfolgt durch die kindliche Perspektive eine Verschiebung des Blicks, die einen mal auflachen lässt, mal nachdenklich stimmt.

Wohin gehen die Trends bei Comics und Graphic Novels?

Ein neuer Trend ist das Aufgreifen von Sachbuchthemen durch Comics und Graphic Novels. Besonders erfolgreiche Sachbücher zu gesellschaftsrelevanten Themen werden zunehmend als Graphic Novels adaptiert. Dieser neue Zweig hat sich der Vermittlung historischen, ökonomischen und soziologischen Wissens verschrieben. Die Comicforschung untersucht dieses Phänomen bereits. Als jemand, der sich besonders für das ökonomische Wissen der Literatur und des Comics interessiert, kann ich aus diesem Bereich Thomas Pikettys Kapital & Ideologie als Graphic Novel (2023) empfehlen. Es gibt sie unter anderem auf Deutsch, Englisch und Französisch. 

Tiphaine Rivière vermittelt Pierre Bourdieus Habitus-Theorie in La Distinction (2023: dt.: Der feine Unterschied) auf humorvolle Weise. Eine gut verständliche Geschichte der komplexen Ereignisse des Algerienkriegs haben der Historiker Benjamin Stora und der Zeichner Sébastien Vassant gemeinsam gestaltet (Histoire dessinée de la Guerre d‘Algérie, 2016).
 

© Universität Regensburg | Interview: Tanja Wagensohn

Publikationen

Achsen und Spektren der Migration in romanischen Literaturen und Bildmedien des 21. Jahrhunderts, hg. von Beatrice Schuchardt, Karen Struve und Juliane Tauchnitz. Paderborn: Fink, 2024.
https://www.fink.de/edcollbook/title/63331

Beatrice Schuchardt: Die Anthropologisierung des Ökonomischen im spanischen Theater, 1762-1805. Vom vir oeconomicus bis zur femina profusa. Reihe: La cuestión palpitante, 35. Frankfurt/Main: Iberoamericana – Vervuert, 2023. https://doi.org/10.31819/9783968692630

Kontakt und Links

Mehr über Professorin Dr. Beatrice Schuchardt

Alle Interessierten – an und außerhalb der Universität –  sind immer dienstags von 16 bis 18 Uhr zur Ringvorlesung „Déplacements“ in W 115 (Erster Stock im Gebäude Recht und Wirtschaft der Universität Regensburg) eingeladen.

UR Research: Dynamics in the Global World

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