Afroatlantische Christen

Eine aktuelle Umfrage zeigte, dass auf die Frage, „Betrachten Sie sich selbst als Christin, als Christ?“ fast 80 % der katholischen und protestantischen Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner mit Ja antworten – mehr als bei Weißen, Hispanics oder Latinxs. Das ist nicht selbstverständlich. Denn das Christentum war die Religion der Unterdrücker, der Sklavenhalter. Warum ist das Christentum in der Schwarzen Gemeinschaft bis heute trotzdem tief verwurzelt?
Traditionell heißt es, dass die Afrikaner mit ihren einheimischen, indigenen Religionen nach Amerika gekommen sind und ihre Gemeinschaften sich im 18. Jahrhundert in Nord- und Südamerika in Folge der weißen Missionsarbeit zum Christentum bekannten. Doch die Rolle der weißen Missionare in Afrika und Amerika war kleiner, als man annehmen möchte.
Professor Jeroen DeWulf von der University of California, Berkeley, am 4. Februar 2025 zu Gast beim Leibniz-WissenschaftsCampus der Universität Regenburg (UR), zeigte in einem Vortrag im Vielberth-Gebäude der UR auf, dass die Initiativen der Schwarzen Gemeinschaft bei der Verbreitung des Christentums in Nord- und Südamerika weit unterschätzt werden.

Besonders in den ersten Jahrzehnten des transatlantischen Sklavenhandels gab es eine kleine, aber einflussreiche Minderheit von Afrikanern, die sich bereits vor ihrer Ankunft in Amerika als Christen identifizierten und für die das Christentum keine fremde, weiße, europäische Religion war, sondern eine eigene, afrikanische Religion. Der Einfluss dieser „afroamerikanischen Katholiken“ war groß, fand DeWulf heraus.
Die Portugiesen in Afrika
Zentral war der portugiesische Einfluss in Afrika, eine „frühe Form der Globalisierung“, sagt DeWulf. Er nimmt sein Publikum zum Beweis mit ins Restaurant. Erst ein indisches. Die schmackhafte Technik, ein Hähnchen, nennen wir es „Chicken Vindaloo“, in Knoblauch und Chili-Pfeffer zu marinieren, ist eine portugiesische Idee. Die Portugiesen brachten die Chili-Pflanze aus Südamerika nach Indien. Vieles ging noch weiter nach Osten: Tempura, leicht frittiertes Gemüse in Japan, sei auch eine portugiesische Idee, erzählt DeWulf: Es stammt aus den sogenannten Quatembertagen, den Tagen, an denen man als Katholik kein Fleisch essen durfte.
Wie erklärt sich der Forscher, dass man den Einfluss der Präsenz Portugals auf die Entwicklung des Christentums in Afrika so unterschätzte?
- Viele Forschende konnten keine portugiesischen Quellen lesen.
- Man übersah, dass Portugal schon ab dem 15. Jahrhundert das Christentum in Afrika einführte.
- Katholische Priester bildeten koloniale Hilfskräfte aus.
Portugal war ein eher kleines Land in der Zeit seiner kolonialen Expansion - seine Priester reichten bei weitem nicht aus, um sie nach Afrika zu entsenden. So bildeten die Priester der Kolonialherren in den Kolonien kleine Gruppen junger Männer aus, brachten ihnen Lesen und nicht zuletzt das Beten bei. Man nannte sie mestres, Schulmeister.
Königreiche im Atlantik
Um die katholischen Schulmeister herum bildeten sich eine Art Organisationen, die ihnen Bedeutung verliehen, sogenannte Bruderschaften. Diese „in der spät-mittelalterlichen portugiesischen Gesellschaft weitverbreiteten Organisationen verbreiteten sich in Afrika“ und hatten aus Sicht DeWulfs maßgeblich Einfluss auf die Verbreitung des Katholizismus. An ihrer Spitze standen Könige und Königinnen, Prinzen, Herzoginnen – aristokratische Adelstitel zu verwenden verlieh Bedeutsamkeit. Pseudo-Höfe entstanden. Manche dieser Königreiche verschwanden wieder, andere blieben präsent.
Portugiesische Priester besuchten die Bruderschaften allenfalls einmal im Jahr. Die mestres gewannen deswegen an Einfluss in ihrer Interpretation des Christentums. Bis heute etwa gibt es auf Santiago, der größten der Kapverdischen Inseln, eine Gemeinschaft Schwarzer Alt-Katholiken; ihre Feiern folgen Riten des 16. Jahrhunderts.
Solche Gemeinschaften gab es im 16. Jahrhundert zu hunderten in Regionen, in denen Portugal aktiv war, berichtet DeWulf, in erster Linie auf den Afrikanischen Inseln im Atlantik, darüber hinaus in der Region um Senegambia und in den Regionen Kongo und Angola. Doch das Christentum, das sich in jenen Regionen entwickelte, war ein sehr afrikanisches Christentum.
So habe sich 1762 der Portugiese João Vieira de Andrade nach einem Besuch auf der Insel Santiago beim Bischof über „Irrtümer gegen die katholische Kirche“ beklagt, berichtet DeWulf. Er registrierte sie in den reinados, den Königreiche nachahmenden Bruderschaften, die an Feiertagen Paraden mit Musik veranstalteten. Die Traditionen stammten aus dem 15. Jahrhundert, aus der europäischen Sicht des 18. Jahrhunderts aber waren sie „heidnische Bräuche“ - und mindestens „skandalös“.
Die Congados - filmische Einblicke
Dieser Film zeigt die jährliche Prozession der Congado-Gruppen in der brasilianischen Stadt Ouro Preto, angeführt von der örtlichen „guarda“ Congado Reinado de Nossa Senhora do Rosário, einer afro-katholischen brasilianischen Tradition, die vor allem in den Bundesstaaten Minas Gerais und São Paulo anzutreffen ist und afrikanische Trommeln und Gesänge an die Heiligen in einer synkretistischen Art von Straßenritual verbindet.
Gott mag Tanz, Musik, Humor. Oder nicht?
Europäerinnen und Europäer verstanden die Liturgie in den afro-christlichen Bruderschaften kaum. Denn der Katholizismus in Portugal hatte sich stark verändert: Musik und Tanz in der Kirche galten im 18. Jahrhundert als untragbar – im 15. Jahrhundert hingegen war es Ausdruck katholischen Glaubens wie Fasten oder Beten.
DeWulf zitiert den afrikanischen Soziologen Félix Monteiro, der berichtet, dass die Gläubigen in Santiago die feste Überzeugung teilen, dass die Heiligen „Traurigkeit hassen, weil sie es als eine Form menschlicher Kritik an eine göttliche Entscheidung betrachten“. Als guter Katholik musste man seine Trauer, etwa bei einer Beerdigung, daher vertuschen oder zumindest unterbrechen – mit Tanz, Musik, Lachen.
Dieses tiefe Gottvertrauen sollte später, auch von den auf die Portugiesen folgenden italienischen Kapuzinern, die der Vatikan sandte, falsch verstanden und als Respektlosigkeit interpretiert werden.
Macht, Prestige, Freiheit: Die Bruderschaften
Die Bruderschaften folgten zunehmend ihren eigenen Regeln. Die lokale Bevölkerung strebte häufig an, Mitglied zu sein, erzählt DeWulf. Denn solche Mitgliedschaften verliehen den Menschen Mitspracherechte und die Möglichkeit, christliche Bräuche nach afrikanischem Muster zu gestalten. Anders als die „normalen Kirchen“ standen die Königreiche mit gewählten Adeligen unter lokaler Herrschaft, sie waren nicht fremdbestimmt, sondern vor Ort gewählt.
Eine Mitgliedschaft in den Bruderschaften war damit auch prestigeträchtig, es gab Führungspositionen mit hohem Ansehen zu vergeben. Wer aufgenommen worden war, konnte theoretisch auch nicht als Sklave verkauft werden. DeWulf berichtet über das Königreich Kongo, im heutigen Nordwesten Angolas. Bereits 1595 gab es nicht weniger als sechs Bruderschaften in der Hauptstadt Mbanza Kongo.
Jamaika und Jungferninseln
Auch in protestantischen Kolonien fand der Forscher Hinweise auf die Existenz afroatlantischer katholischer Gemeinschaften und auf Hilfs- und Beerdigungsvereine mit Traditionen ähnlich denen der katholischen Bruderschaften.
So berichtete der baptistische Missionar James Phillippo 1843, als er auf Jamaika auf afrochristliche Gemeinschaften stieß, dass die mit Königen und Königinnen organisierten Bruderschaften das Phänomen der Krankensalbung kannten und „einen festen Glauben an das Fegefeuer bekundeten“.
Auf den Dänischen Jungferninseln stieß der deutsche Missionar der Herrnhuter Brüdergemeinde, Christian Oldendorp im 18. Jahrhundert, es sei „unter den aus portugiesischen Ländern kommenden Schwarzen ..., insbesondere aus dem Kongo“ üblich, „eine Art Taufe“ durchzuführen und „in Kongosprache“ zu Gott zu beten“. Den „Bussalen,“ den afrikanischen Neuankömmlingen, bot man ebenfalls an, sie zu taufen.
Diesen und weiteren Quellen folgend, ist DeWulf überzeugt,
- dass afro-atlantische Katholiken in bestimmten Teilen Amerikas die Christianisierung selbst in die Hand nahmen und
- dass sie sich in bestimmten Fällen sogar an Missionsarbeit innerhalb der schwarzen Gemeinschaft beteiligten.
Gullah in Nordamerika
Spuren entdeckt DeWulf nicht zuletzt in Nordamerika, in South Carolina und Georgia. Dort lebten einst die meisten versklavten Afrikanerinnen und Afrikaner in Nordamerika. Bis Mitte des 18. Jahrhundert stammte dort etwa 70% dieser Menschen aus der Region Kongo/Angola.
„Ihre Erinnerungen an Zentralafrika verschwanden auch hier nicht über Nacht“, sagt DeWulf. In den 1930er Jahren belegten Interviews mit älteren Personen, dass ihre Eltern oder Großeltern noch afrikanische oder sogenannte „Gullah-Wörter“ verwendeten, d. h. Wörter aus der Kikongo-Sprache. Der Begriff Gullah verweist auf Angola.
Hinweise findet DeWulf auch im Zusammenhang mit dem Stono-Aufstand von 1739, bei dem Afrikanerinnen und Afrikaner versuchten, das spanische Florida zu erreichen. Warum? Katholiken wurden bei ihrer Ankunft in Florida freigelassen. Waren sie tatsächlich katholisch? DeWulf hat eine Quelle entdeckt, die enthüllt, dass diejenigen, die versuchten, nach Florida zu gelangen, aus dem „Königreich Angola“ stammten, „Portugiesisch sprachen“ und sich „zum römisch-katholischen Glauben bekannten“.
Als die ersten protestantischen Missionare in der Region ihrer Arbeit anfingen, berichtet DeWulf, stellten sie fest, dass einige von ihnen bereits mit dem Christentum vertraut, getauft waren oder zu katholischen Heiligen beteten.
Dies bestätigte nicht das traditionelle Bild der protestantischen Missionarstätigkeit in Nordamerika: “Das traditionelle Bild ist ja, dass Mitglieder der Schwarzen Gemeinschaft keine Ahnung vom Christentum hatten, bis ihnen die protestantischen Missionare „die Augen für das Christentum öffneten“. Was diese Hinweise belegen, ist dass viele bereits längst mit dem Christentum vertraut waren. Es war allerdings ein eigenes, afrikanisches Christentum, das von Missionaren nicht als Christentum und schon gar nicht als „richtiges Christentum“ erkannt wurde.
Erste Baptisten- und Methodistenkirchen
Mehr noch: DeWulf verweist darauf, dass protestantische Missionare in Nordamerika auf Widerstand angeblicher „Geheimgesellschaften“ stießen, religiöse Gemeinschaften, die sich lange weigerten, das protestantische Christentum anzunehmen.
DeWulf teilt den wissenschaftlichen Mainstream nicht, dass es sich dabei um geheime afrikanische Gesellschaften handelte, in denen die Sklavenbevölkerung indigene afrikanische Rituale feierten. Er geht davon aus, dass sich diese Gesellschaften aus katholischen Bruderschaften entwickelten. Quellen methodistischer Missionare wie Thomas Turpin aus dem 19. Jahrhundert, der diese Gesellschaften untersuchte, bestätigen ihn in seiner Auffassung.
Im Kontext dieser „Geheimgesellschaften“ entwickelten sich die ersten schwarzen Baptisten- und Methodistenkirchen. Traditionell habe man diese Kirchen als eine Mischung indigener afrikanischer Elemente mit angelsächsischen protestantischen Elementen verstanden, die weiße Missionare mitbrachten, berichtet DeWulf.
Seine Quellen überzeugten ihn, dass diese Kirchen nicht ohne ein drittes Element verstanden werden könne, nämlich Einflüsse der frühen afro-katholischen Bruderschaften. Dies zeige sich in bestimmten Traditionen, die bis heute solchen Kirchengemeinschaften auszeichnen, wie beispielsweise die Verpflichtung zur gegenseitigen Hilfe, die Gospelmusik oder die Tradition, sich gegenseitig als Bruder und Schwester zu bezeichnen.
Fazit
DeWulf schreibt die Geschichte der afroamerikanischen christlichen Identitätsbildung um.
Seine vielfältigen Beweise für den langanhaltenden Einfluss kultureller Elemente aus der Kongo-Region in Nordamerika verleihen dem Appell, Afrikas lange katholische Geschichte bei der Untersuchung der Entwicklung des afroamerikanischen Christentums nicht zu ignorieren, Legitimität.
Kirchenglocken!?
In den 1880er Jahren reiste der amerikanische Journalist Clarence Deming durch das Mississippi-Delta und besuchte afroamerikanische Baptistenkirchen. Besonders überraschte ihn, wie sehr sich die jeweiligen Gemeinschaften eine eigene Kirchenglocke wünschten, erzählt DeWulf. Oft konnten sie sich keine leisten und suchten daher nach allerlei Alternativen.
Warum?
Die traditionelle Erklärung: „Die Kirchen der weißen Gemeinschaft hatten eine Glocke, also wollten Mitglied der schwarzen Gemeinschaft auch eine.“
Eine zweite Erklärung: Die Bedeutung der Glocke in indigenen afrikanischen Gesellschaften, wie etwa der Doppelglocke oder Lunga in Zentralafrika.
DeWulf schlägt eine dritte Theorie vor, die eine Verbindung zur alten afrikanischen Geschichte des Katholizismus herstellt. Kirchenglocken kamen bereits im 15. Jahrhundert nach Kongo, als Geschenk des portugiesischen Königs João II. für die Kirchen in Mbanza Kongo. Diese Glocken erlangten eine so starke symbolische Bedeutung, dass Mbanza Kongo und im weiteren Sinne das Königreich selbst als Kongo dia Ngunga (Kongo der Glocke) bekannt wurden.
Dieser alte Name wurde über Generationen weitergegeben, berichtet DeWulf. Bis hin zu dem Punkt, dass die Widerstandsbewegung der Allianz von Bakongo in der (damals noch belgischen Kolonie) Kongo ihre Zeitschrift Kongo dia Ngunga nannte.
Weitere Infos und Links
Jeroen DeWulf (2. v. r.) ist Queen Beatrix Professor in Niederlandistik/Germanistik und Folklore/Anthropologie an der University of California, Berkeley, wo er auch Direktor des Center for Portuguese Studies ist. Begrüßt wurde er zu seinem Vortrag in Regensburg von Ulf Brunnbauer (r.), Professor für die Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Universität Regensburg und Akademischer Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) im Vielberth-Gebäude der Universität Regensburg begrüßt. Moderiert wurde der Abend von Yves Kingata (2. v. l.), Professur für Kirchenrecht and der Fakultät für Katholische Theologie der UR. Bildmitte - Ursula Regener (Vizepräsidentin UR), links Paul Vickers (Geschäftsführer LWC).
Der Vortrag fand in Kooperation mit der Universitätsstiftung Hans Vielberth im Rahmen des Berkeley-Regensburg-Austauschprogramms dem Department for Interdisciplinary and Multiscalar Area Studies DIMAS, dem Regensburg European American Forum REAF und der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg statt.
Über Jeroen DeWulf und sein Buch “Afro-Atlantic Catholics"
Interview mit Jeroen DeWulf von UR-DIMAS-Geschäftsführerin Laura Niebling
UR-Pressemitteilung vom 28. Januar 2025: Wissenschaftler aus Berkeley zu Gast an der Universität Regensburg
Internationale Partnerschaften und Fellow-Programme des Leibniz-WissenschaftsCampus
REAF - Regensburg European American Forum
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