Helfen in seelischer Not

H-S-N steht für “Helfen in seelischer Not”. Der Erste-Hilfe-Kurs will konkrete Handlungsstrategien vermitteln, damit Menschen in Krisensituationen sicherer reagieren können. Die Entwicklerinnen und Entwickler des Kurses wollen die psychischen Handlungskompetenzen in der Bevölkerung steigern, damit mehr Menschen auf psychische Akutsituationen im direkten Umfeld adäquat reagieren können. Sie wollen Berührungsängste und mentale Hemmschwellen bezogen auf Hilfeverhalten minimieren, die Grundresilienz der Allgemeinheit fördern und zur Aufklärung und Entstigmatisierung des Themas „Psychische Gesundheit“ beitragen.
Wir haben mit Sandra Appel gesprochen. Sie ist psychologische Psychotherapeutin, HAKOMI - Therapeutin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Psychiatrie und Psychotherapie der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg am medbo Bezirksklinikum Regensburg und Projektmitarbeiterin bei „Helfen in Seelischer Not“.

Frau Appel, wie ist es zu dem Kurs gekommen?
Vor etwa drei Jahren haben wir den Kurs konzipiert und dafür finanzielle Mittel vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit, Pflege und Prävention bekommen. Der Hintergrund war, dass wir infolge der Corona-Pandemie eine Häufung von seelischen Problemen bei den unter 18- und den über 60-Jährigen beobachtet haben. Mit unserem Ansatz wollten wir nahestehende Bezugspersonen in der Familie, in der Freizeit oder am Arbeitsplatz als Unterstützung für Alltagskrisen gewinnen und so auch mögliche Versorgungslücken füllen. Vor allem, weil wir wissen, dass es für Psychotherapieplätze Wartezeiten von einem halben bis einem dreiviertel Jahr gibt.
Wann sind Sie gestartet?
Wir haben vom Ministerium den Auftrag, die Ersthelferkurse bayernweit anzubieten und diese Versorgungsleistung dann auch zu evaluieren. Im Frühjahr 2023 ist der erste Kurs gestartet. Die Förderung läuft jetzt aus und wir haben noch einmal einen Folgeantrag mit einem besonderen Fokus gestellt.
Gibt es das Angebot auch außerhalb von Bayern?
Das Interesse auch außerhalb Bayerns war von Anfang an groß. Wir haben aber sehr schnell gemerkt, dass wir das mit zwei Teilzeitstellen nicht umsetzen konnten. Deshalb haben wir mittlerweile, zusätzlich zu den Ersthelferkursen, auch noch ein Format entwickelt, mit dem wir Anleiter:innen für die Ersthelferkurse ausbilden. Unser Ziel ist es, auf längere Sicht, dass sich das Projekt selbst trägt und wir unabhängig von einer Förderung werden.
Wie viele Helfende haben Sie inzwischen ausgebildet?
Wir hatten bisher vier Anleitendenkurse und haben mittlerweile 20 (23 mit uns drei) Anleiter:innen, die regelmäßig Ersthelfer:innen-Kurse anbieten. Ersthelfer:innen haben wir deutschlandweit bisher etwa 2800 geschult.
Was genau ist das Ziel des Projektes?
Wir möchten Menschen in ihren Kompetenzen stärken, andere Menschen in einer seelischen Notlage unterstützen zu können, und quasi einen Erste-Hilfe-Kurs für die Seele anbieten. Letztlich soll damit auch eine Art Grundresilienz in der Bevölkerung gestärkt werden. Wir möchten aber auch die Wahrnehmung für das Thema psychische Gesundheit schärfen und sensibilisieren und zur Entstigmatisierung Betroffener beitragen.
Sie begleiten das Projekt in einer Studie wissenschaftlich. Was bedeutet das konkret?
Das machen wir jeweils vor und nach dem Kurs durch eine digitale Abfrage und durch ein Follow-up nach sechs Monaten. Dabei geht es konkret darum, ob die Teilnehmenden sich nach einem Kurs sicherer fühlen, in einer Notsituation unterstützen zu können. Also um die Sinnhaftigkeit und die Effektivität unseres Ansatzes, ob die konkrete Handlungskette, die wir vermitteln, nicht nur kurzfristig, sondern auch mittel- und langfristig wirksam sind und die Teilnehmenden in ihrer Kompetenz stärken, Menschen in seelischer Notlage zu unterstützen. Wir fragen aber auch die Situation der Teilnehmenden ab, um herauszufinden, welche Faktoren für die Kompetenz, anderen zur Seite zu stehen, eine Rolle spielen.
Was sind die Ergebnisse dieser Studie/Evaluation?
Da wir kontinuierlich Daten erheben, haben wir einen großen Datensatz. Gerade sind wir mitten in der Auswertung und können daher noch keine konkreten Zahlen nennen. Die ersten Daten geben aber Hinweise darauf, dass sich die Menschen nach dem Besuch eines solchen HSN-Kurses subjektiv deutlich sicherer fühlen und ein Zuwachs an Wissen stattgefunden hat. Ob sich das auf alle Bereiche bezieht und wie nachhaltig diese Veränderung ist, müssen jetzt weitere Analysen zeigen.
Wer kann an Ihren Kursen teilnehmen?
Unsere Ersthelfer:innenkurse werden von ganz unterschiedlicher Seite aus nachgefragt. Anfangs hatten wir eine starke Nachfrage von Fachpersonen aus der Jugendarbeit und Schulen. Inzwischen hat sich das Interesse auch auf Wirtschaft, Sozialwesen und Freizeitbereich ausgeweitet.
Welche Kompetenz gewinnen die Teilnehmende Ihrer Kurse?
Im Arbeitsumfeld könnte man zum Beispiel besser auf einen Kollegen reagieren, der sich immer mehr zurückzieht, unkonzentriert ist, vergesslich wird und niedergeschlagen wirkt.
Wie könnte das aussehen?
Unsere niedrigschwelligen Handlungskette für Ersthelfer:innen lautet „hinschauen, zuhören/sprechen, netzwerken“. Hinschauen bedeutet im ersten Moment, die Krisensituation zu erkennen. Wir nutzen dafür den emotionsfokussierten Ansatz, bei dem wir uns auf die emotionale Lage des Gegenübers beziehen.
Konkret heißt das, dass wir uns auf die drei dominierenden emotionalen Lagen konzentrieren, die in einem starken Zusammenhang zu psychischen Nöten oder Krisensituationen auftauchen.
Das sind Angst, Traurigkeit/ Trauer und Wut/Ärger. Im Kurs erklären wir, woran man eine Notlage durch einen emotionalen Zustand erkennt.
Genauso wichtig ist es aber, dass Ersthelfer:innen auf sich selbst schauen: achtsam wahrnehmen, in welcher emotionalen Lage befinde ich mich gerade selbst, was macht das gerade mit mir? Denn wenn sich der Krisenraum eines anderen öffnet, dann öffnet sich auch mein eigener Krisenraum. Da geht es beispielsweise um Unsicherheit, Überforderung, Hilflosigkeit oder auch Ohnmacht.
Es geht also für die Ersthelfenden auch darum, ihre eigenen Grenzen zu erkennen?
Ja, einerseits wollen wir die Überzeugung aufbauen, dass die Ersthelfer:innen selbst Gefühle der Unsicherheit haben dürfen und trotzdem durch ein konkretes Ansprechen einen Moment der Begegnung herstellen können, der mit bestimmten Botschaften für den anderen verknüpft ist, wie - ich werde wahrgenommen, ich bin nicht allein mit der Situation, mir wird Hilfe angeboten.
Aber genauso wichtig ist es uns, dass die Ersthelfer:innen merken, wo die eigenen Grenzen sind und spüren, bis zu welchem Punkt sie helfen können und ab wann nicht mehr. Auch auf sich selbst zu achten, nicht über die eigenen Grenzen zu gehen und das auch zu artikulieren und etwa anzubieten, eine weitere Person hinzuziehen, ist eine ganz wichtige Fähigkeit für Ersthelfer:innen, sonst haben wir am Ende zwei Personen in seelischer Not. Ein:e Ersthelfer:in kann nur gut unterstützen, wenn er:sie sich selbst gut im Blick hat und sicher ist.
Wie bei der Ersthilfe bei einem Unfall?
Ja und es geht ja nicht darum, dass die ersthelfende Person am Unfallort eine Operation vornimmt. Ihre Aufgabe ist, dem Unfallopfer zu vermitteln, dass jemand da ist, es nicht allein ist und die Wunde vielleicht notdürftig zu versorgen. Aber die eigentliche Versorgung übernimmt dann der Notarzt und mit seinem Auftreten ist die Aufgabe des Ersthelfers in der Regel auch beendet.
Was kann ich tun, wenn ich erkannt habe, dass jemand Hilfe brauchen könnte?
In unserem Kurs lernen die Teilnehmende durch kleine, praktische erfahrungsorientierte Übungssequenzen, wie sie ihr Gegenüber in einer Ausnahmesituation ansprechen können. Wir bieten dafür konkrete Ansprechsätze an, um den Fuß in die Tür zu kriegen. Dabei geht es gar nicht um die perfekte Lösung. Allein schon da zu sein und zuzuhören unterstützt bereits, auch ohne, dass man eine besondere Hilfe anbietet. Wir möchten das Helferverhalten durch unser Angebot so stärken, dass die Betroffenen im Kontakt bleiben können mit der jeweiligen Person und mit ihr gemeinsam weitere Handlungsschritte angehen oder in das professionelle Helfernetz überleiten – also netzwerken.
Wie sieht es aus, wenn Suizid im Raum steht?
Hier muss sofort reagiert werden, etwa damit der Notarzt kommt, medizinische Hilfe geleistet oder die Polizei gerufen – auf jeden Fall aber die Verantwortung an das Fachpersonal übergeben wird.
Was bringt es, wenn die Erstversorgung jetzt zwar vorhanden ist, aber Folgeangebote fehlen?
Wir sind uns dessen bewusst, dass wir keinen Einfluss auf die professionellen Versorgungsstrukturen haben. Wir schauen, wo es andere Möglichkeiten gibt. Ein Therapieplatz ist nur eine von vielen Möglichkeiten. Es gibt so viele Unterstützungs- und Helfersysteme, die den meisten gar nicht bewusst sind. Hier geben wir in unserem Kurs Input, damit die Vielfalt bewusst wird. Außerdem möchten wir das Laiensystem sowie die Prävention stärken.
Könnten Sie einige Unterstützungs- und Helfersysteme nennen?
Das können Notfallnummern sein, die Seelsorge, Beratungsstellen oder Selbsthilfegruppen. Wir erweitern die Wahrnehmung der Versorgungsstrukturen nicht nur im therapeutischen Sinne.
Konkrete Nummern sind neben der 112 für Notfälle, die 0800 111 0 111 für die Seelsorge oder die 0800 / 655 3000 für den bayernweiten Krisendienst. Für Kinder und Jugendliche gibt es spezielle Angebote wie die Nummer gegen Kummer 116 111.
Generell ist es wichtig, jeweils für das ganz konkrete Setting ortsspezifische Netzwerkpartner ausfindig zu machen. Wir möchten in unseren Kursen anregen, sich damit zu beschäftigen, damit man im nächsten Fall einer seelischen Not gut vorbereitet ist.
Wie geht es mit dem Ausbildungsprogramm weiter?
Wir bieten pro Jahr zum aktuellen Zeitpunkt fünf Anleitenden-Ausbildungen an. Jede Anleitenden-Ausbildung umfasst eine zweitägige Präsenz-Schulung, in der die Teilnehmenden nicht nur das Konzept und die theoretischen Hintergründe kennenlernen, sondern auch die Didaktik und Methodik der Wissensvermittlung erlernen. Ebenso ist ein großer Teil der Ausbildung die Selbstreflexion in der Rolle als Anleiter:in.
Nach der Präsenz-Ausbildung müssen die angehenden Anleiter:innen bei einem HSN-Kurs hospitieren, bevor sie zunehmend eigene Anteile von den HSN-Kursen übernehmen und praktische Erfahrungen sammeln. Nach erfolgreicher Übernahme von HSN-Kursanteilen findet eine abschließende Reflexion und Austauschmöglichkeit statt. Anschließend erhalten die Teilnehmenden ihr Abschlusszertifikat und sind qualifiziert, eigenständig HSN-Kurse anzubieten.
Für Anleiter:innen finden regelmäßige Supervisionen statt, um die Qualität der Anleitung sicherzustellen, Herausforderungen zu reflektieren, sich fachlich weiterzuentwickeln und den Austausch mit anderen Anleiter:innen zu fördern. Wer an einer solchen Tätigkeit Interesse hat, kann sich gern für eine unserer Infoveranstaltungen anmelden, die wir ca. alle zwei Monate online anbieten und in denen alles genau erklärt wird. Die Anmeldung dazu und alle weiteren Informationen findet man übrigens auf unserer Homepage.

Kontakt
Marina Scheele
Zentrum für Neuromodulation und Psychiatrische Institutsambulanz
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg am Bezirksklinikum
Email: Marina.scheele@
ukr.de
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