Wenn die Zahnbürste plötzlich fremd ist

Wie selbstverständlich greifen wir im Alltag zu Messer und Gabel, benutzen eine Schere oder machen jemandem per Handzeichen klar, dass wir ihm folgen. Doch was, wenn diese scheinbar einfachen Handlungen plötzlich nicht mehr funktionieren? Menschen mit sogenannten Apraxien – insbesondere der Gliedmaßenapraxie – erleben genau das: Sie wissen nicht mehr, wie man ein Werkzeug sinnvoll einsetzt oder eine bekannte Geste korrekt ausführt. Ursachen können Schlaganfälle oder neurodegenerative Erkrankungen sein – in Deutschland sind jährlich rund 30.000 Betroffene allein durch Schlaganfälle betroffen.
Jennifer Randerath, seit Oktober 2024 Professorin für klinische Neuropsychologie und Neuropsychologische Psychotherapie an der Universität Regensburg, erforscht seit vielen Jahren die neuropsychologischen Grundlagen solcher Funktionsstörungen. Für ihre herausragende Arbeit wurde sie kürzlich mit dem renommierten Forschungspreis der Fürst Donnersmarck-Stiftung in Berlin ausgezeichnet. Im Zentrum ihrer Forschung stehen die neuroanatomischen Ursachen, die Diagnostik und insbesondere die Übertragung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die klinische Praxis – mit dem Ziel, Betroffenen durch gezielte Therapieansätze zu mehr Selbstständigkeit im Alltag zu verhelfen. Wir haben bei ihr nachgefragt.
Frau Prof. Randerath, in Ihrer Forschung beschreiben Sie, dass die Gliedmaßenapraxie verschiedene Subkomponenten umfasst, was ist damit gemeint?
Bei Schlaganfall-Betroffenen kann es durchaus sein, dass Hirnareale geschädigt sind, die z.B. an der Auswahl von richtigen Objekten beteiligt sind oder die Planung der Bewegungen mit dem Objekt steuern. Betroffene können nur mit bekannten Objekten Probleme haben - also das Wissen über den korrekten Gebrauch der bekannten Objekte verloren haben. Das kann z.B. dazu führen, dass sie ihr Frühstück nicht mehr selbst zubereiten können oder nicht mehr wissen, wie sie ihre Zähne putzen. Es kann auch sein, dass Betroffene sich nicht mehr logisch erschließen können, wie man neue Objekte benutzen könnte.
Manchmal haben Betroffene mit Apraxie auch beides, sie haben dann Schwierigkeiten sowohl im Umgang mit neuen und bekannten Objekten. Entsprechend muss man in der Therapie den Umgang mit den Objekten trainieren. Wenn wir wissen, bei welchem Aspekt – von der Auswahl bis zur Bewegungsausführung – die Schwierigkeiten liegen, kann in einem ganzheitlichen Training ein besonderes Augenmerk daraufgelegt werden.
Welche Hirnareale sind betroffen, wenn Betroffene das Wissen über den korrekten Gebrauch von Werkzeugen „verloren“ haben?
Wenn wir uns anschauen, welche Schädigungen im Gehirn mit welchen Beeinträchtigungen einhergehen, dann scheint vor allem die Funktionstüchtigkeit der linken Hirnhälfte besonders wichtig für den Umgang mit Objekten zu sein.
In der linken Hirnhälfte gehen dann Schädigungen im dorsalen, also oberen Bereich eher mit Schwierigkeiten im Umgang mit neuartigen Objekten einher und Schädigungen im ventralen, also unteren Bereich gehen eher mit Schwierigkeiten im Umgang mit bekannten Objekten, also Gabel, Stift oder Zahnbürste einher.
Was ist das Ziel Ihrer Forschung?
Das Ziel unserer Forschung ist von der Diagnostik bis zur Therapie Angebote für Personen mit neuropsychologischen Schwierigkeiten zu entwickeln. Wir verknüpfen dabei Grundlagenforschung mit Anwendungsforschung. Wir haben uns neben dem Thema Apraxie auch mit anderen Forschungsbereichen beschäftigt, wie z.B. mit dem Thema Post Covid.
Als Post Covid-Syndrom werden die Beschwerden bezeichnet, die länger als 12 Wochen nach der Virusinfektion noch vorhanden sind. Neuropsychologische Folgen beinhalten beispielsweise Probleme mit der Aufmerksamkeit oder mit dem Gedächtnis. Oft sind betroffene Personen nicht mehr so belastbar wie früher und können z.B. ihrer Arbeit nicht wie gewohnt nachgehen. Wir beschäftigen uns v.a. mit der Minderbelastbarkeit, die als Folge der SARS-CoV-2-Infektion entstehen kann.
Dazu haben wir in Deutschland z.B. einer der ersten psychotherapeutischen Post-Covid Gruppen mitentwickelt, die sich dem Umgang mit der Erkrankung widmen. In unserer neuen Psychotherapeutischen Hochschulambulanz für Klinische Neuropsychologie wird es entsprechend auch Angebote geben.
Wir bemühen uns im Verlauf der Projekte neben den üblichen Protokollen und Publikationen in Fachzeitschriften ebenfalls Manuale zu erstellen, die entweder frei zugänglich sind oder für einen erschwinglichen Betrag erhältlich sind. Wenn es unsere Kapazitäten erlauben, bieten wir auch Workshops zu unseren Schwerpunkthemen an. Das sehen wir als einen sehr wichtigen Schritt an, damit die entwickelten Materialien auch in der Praxis genutzt werden können.
Inwiefern fließen Rückmeldungen oder Erfahrungen von Patientinnen direkt in Ihre Studiengestaltung oder therapeutische Konzepte ein?
Wir haben in der Hochschulambulanz und in den kollaborierenden Rehakliniken sowohl Kontakt zu Betroffenen als auch Personal und Angehörige. Wir haben damit die Möglichkeit im Kontakt Bedarf zu entdecken und Inspirationen für Optimierungen in unserem Forschungsfeld zu erhalten. Manchmal wird dann daraus auch ein neues Forschungsprojekt.

Gliedmaßenapraxie
Was damit gemeint ist:
Der Begriff Gliedmaßenapraxie (auch Limb-Apraxie) bezeichnet eine Störung der zielgerichteten Bewegungen der Arme und/oder Beine, die nicht durch eine Lähmung, Koordinationsstörung oder sensorische Beeinträchtigung erklärt werden kann. Die betroffene Person hat Schwierigkeiten, erlernte, sinnvolle Bewegungen auszuführen, obwohl sie grundsätzlich körperlich dazu in der Lage wäre.
Wichtige Merkmale:
Die Bewegungsfähigkeit ist grundsätzlich erhalten, aber die Planung oder Umsetzung bestimmter Bewegungen ist gestört.
Die Störung betrifft gezielte Bewegungsabläufe, z. B. das Winken, den Gebrauch eines Werkzeugs oder das Nachahmen von Gesten.
Verschiedene Formen der Gliedmaßenapraxie:
Anfang des 20. Jahrhunderts hat Karl Hugo Liepmann die Funktionsstörung erstmalig gezielt untersucht und die Gliedmaßen-Apraxie in drei Typen aufgeteilt:
- ideomotorische Apraxie: Die Person versteht die Aufgabe, kann sie aber motorisch-konzeptuell nicht korrekt umsetzen. Beispiel: Auf Aufforderung soll man das Schneiden mit einer Schere nachahmen – die Bewegung ist inhaltlich falsch. Oft wird eine komplett andere Bewegung gezeigt oder die vorangegangene, die zu einem anderen Objekt passen würde, wiederholt. Statt der Auf- und Zu- Bewegung von Daumen und Zeigefinger nach vorne wird beispielsweise eine Rührbewegung demonstriert, als wäre die Vorlage ein Löffel.
- ideokinetische Apraxie: Die Person kann die Bewegung inhaltlich in Ansätzen zeigen, ist dabei aber ungenau. Die Bewegung wirkt ungeschickt.
- ideatorische Apraxie: Die Vorstellung einer Handlung fehlt oder ist gestört. Die Person weiß nicht mehr, wie eine Handlung aus mehreren Schritten durchgeführt wird. Beispiel: Die Vorbereitung eines simplen Frühstücks mit z.B. einer Tasse Tee mit Zucker und einem Toast mit Marmelade gelingt nicht mehr. Hier werden häufig Zwischenschritte wie das Einfüllen von Wasser oder das Anschalten des Wasserkochers schlicht ausgelassen, oder in der Reihenfolge verwechselt.
Der Forschungspreis der Fürst Donnersmarck-Stiftung
Die Fürst Donnersmarck-Stiftung zu Berlin vergibt regelmäßig einen Forschungspreis für herausragende wissenschaftliche Arbeiten im Bereich der neurologischen Rehabilitation. Ausgezeichnet werden Projekte, die neue Therapieansätze entwickeln oder bestehende Verfahren weiterdenken – mit dem Ziel, Diagnostik und Behandlung neurologischer Erkrankungen entscheidend zu verbessern.
Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Einbindung der Betroffenen selbst. Denn nur durch ihre Perspektiven kann eine alltagsnahe und wirksame Rehabilitation gelingen. Der Preis ist mit 30.000 Euro dotiert und wird im feierlichen Rahmen in Berlin verliehen.
Im Jahr 2024 ging der Forschungspreis an Prof. Dr. Jennifer Randerath (Universität Regensburg) und Prof. Dr. med. Friedhelm Hummel (Schweiz) für ihre innovativen Arbeiten auf dem Gebiet der Neurorehabilitation.
Kontakt
Prof. Dr. Jennifer Randerath
Psychologische Psychotherapeutin - Klinische Neuropsychologin
Lehrstuhl für Klinische Neuropsychologie & Neuropsychologische Psychotherapie
Universität Regensburg
E-Mail: jennifer.randerath@ur.de
https://www.uni-regensburg.de/humanwissenschaften/psychologie-randerath/startseite/index.html
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