Die Tagung des “Neurobiology of Grief” International Network (NOGIN) fand bereits zum sechsten Mal statt – zum dritten Mal in Präsenz und erstmals außerhalb der USA. Damit gelang es, verstärkt auch Forschende aus Europa für die Teilnahme zu gewinnen. Insgesamt kamen über 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus mehr als sieben Ländern an der Universität Regensburg zusammen, um sich intensiv über die neurobiologischen Grundlagen von Trauer, die Verarbeitung des Verlusts eines geliebten Menschen sowie über Ergebnisse kulturwissenschaftlicher Forschung auszutauschen. Vertreten waren dabei Fachrichtungen wie Neurobiologie, Immunologie, Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie. Organisiert wurde die Tagung von dem Neurobiologen Prof. Dr. Oliver Bosch. Wir haben nach der Tagung bei ihm gefragt, was aus seiner Sicht die wichtigsten Erkenntnisse waren.

Was waren für Sie persönlich die wichtigsten Erkenntnisse der Tagung?

Für mich persönlich war es besonders spannend, mehr über ein aktuelles Forschungsprojekt an der Universität Tübingen zu erfahren. Dort wird untersucht, wie der Verlust eines ungeborenen Kindes (Schwangerschaftsverlust) im Gehirn der werdenden Mutter verarbeitet wird. Diese Fragestellung steht in einem indirekten Zusammenhang mit meinen eigenen Arbeiten im Tiermodell, die sich mit den neuronalen Prozessen im Gehirn von Müttern befassen, die ihr geborenes Kind verloren haben.

Ebenso bereichernd war der Einblick in Studien, die die Rolle der Mitochondrien bei Trauer beleuchten. Mitochondrien werden zwar oft als „Kraftwerke der Zellen“ beschrieben, da sie für die Energieproduktion verantwortlich sind, übernehmen jedoch zahlreiche weitere essenzielle Aufgaben. So sind sie beispielsweise am ersten Schritt der Synthese von Steroidhormonen beteiligt, die wiederum einen wichtigen Einfluss auf das psychische Wohlbefinden haben können. Eine Fehlregulation dieser Prozesse kann zu Depressionen führen – ein Zusammenhang, der nun gezielt im Kontext trauerbedingter Depression untersucht wird.

Gab es ein Ergebnis oder eine Perspektive, mit der Sie nicht gerechnet hatten?

In meinen früheren Forschungsarbeiten gemeinsam mit Prof. Dr. Inga Neumann (Universität Regensburg) und Prof. Dr. Larry Young (Emory University, Atlanta, USA) konnten wir bei monogam lebenden Präriewühlmäusen sehr spezifische Gehirnmechanismen identifizieren, die beim Verlust des Partners aktiviert werden und zu einer Verschlechterung des Wohlbefindens beitragen. 

Besonders interessant war für mich nun die Erkenntnis, dass sich in diesem Tiermodell auch gleichgeschlechtliche Freundschaften sowie deren Verlust untersuchen lassen. Solche Bindungen sind bei beiden Geschlechtern ausgeprägt und weisen deutliche Parallelen zum Menschen auf: So unterscheiden sich auch hier die sozialen Beziehungen innerhalb einer Gruppe von Individuum zu Individuum. Eine zentrale Rolle spielt dabei – sowohl beim Menschen als auch im Tiermodell – die Ausschüttung von Dopamin.

Welche Erkenntnisse aus der Forschung halten Sie für besonders relevant für Menschen, die aktuell trauern? 

Die Auswirkungen der Pandemie sind auch im Bereich der Trauer und Trauerbewältigung weiterhin spürbar. Viele Menschen, die in dieser Zeit einen geliebten Menschen verloren haben, konnten sich nicht in gewohnter Weise verabschieden. Nicht nur die Trauerfeiern selbst waren auf einen sehr kleinen Kreis beschränkt, auch die sonst so wichtigen sozialen Kontakte waren stark reduziert. Dies hat bei vielen Betroffenen die Trauersymptome verstärkt und in manchen Fällen sogar zur Entwicklung einer anhaltenden Trauerstörung (Prolonged Grief Disorder, PGD) geführt.

Um die Bewältigung dieser Störung zu unterstützen, laufen derzeit verschiedene Studien. Zunächst gilt es zu verstehen, welche Fehlregulationen im Gehirn bei PGD entstehen. Darauf aufbauend können anschließend gezielte Maßnahmen entwickelt werden, um die individuelle Trauersituation der Betroffenen zu verbessern.

Mit welchen Aspekten von Trauer beschäftigen Sie sich in Ihrer eigenen Arbeit?

Wie bereits weiter oben angedeutet, untersuchen wir, was im Gehirn einer Mutter geschieht, wenn sie ihr Kind verliert. Dieses traumatische Erlebnis kann zu schweren depressiven Episoden bis hin zur Entwicklung einer anhaltenden Trauerstörung (PGD) führen. Die New York Times hat dies einmal als „eine Trauer so tief, dass sie niemals stirbt“ beschrieben.

Unser Ziel ist es zu verstehen, welche Veränderungen auf der Ebene der Neurotransmitter im Gehirn dieser Mütter auftreten. Zum jetzigen Zeitpunkt wissen wir, dass das Stresssystem im Gehirn übermäßig und langanhaltend aktiviert wird. Dies wiederum hemmt die Signalkaskaden des Bindungshormons Oxytocin. Unsere bisherigen Ergebnisse im Tiermodell zeigen eine hohe Übereinstimmung mit den wenigen vorhandenen humanen Daten und unterstreichen damit den translationalen Wert dieses Ansatzes. Langfristig könnte dies den Weg ebnen, betroffenen Müttern gezielte und wirksame Behandlungsmöglichkeiten anbieten zu können – sofern diese erforderlich sind.

Wie hat sich das wissenschaftliche Verständnis von Trauer in den letzten Jahren verändert?

Trauer muss nicht in jedem Aspekt sofort medizinisch betrachtet oder behandelt werden. Häufig handelt es sich um einen inneren Verarbeitungsprozess, der jedoch nach außen wirken und das direkte soziale Umfeld mit einbeziehen kann. Gerade in diesem Zusammenhang spielt soziale Unterstützung eine zentrale Rolle – auch wenn trauernde Menschen Kontakte oftmals meiden.

Bemerkenswert ist zudem, dass sich wissenschaftliche Fragestellungen nicht mehr nur von der Grundlagenforschung in Richtung Patient entwickeln, sondern zunehmend auch den umgekehrten Weg gehen (back-translational studies). Diese sind von großer Bedeutung, da Erkenntnisse aus der Arbeit mit Menschen zurück ins Tiermodell übertragen werden können, um sie dort weiter und detaillierter zu untersuchen. 

Ein aktuelles Beispiel: Bei trauernden Menschen zeigt sich eine Aktivierung des anterioren cingulären Cortex, einer Gehirnregion, die für Emotionen und Empathie verantwortlich ist. Im Tiermodell wiederum konnte nachgewiesen werden, dass in diesem Bereich vermehrt Dopamin ausgeschüttet wird – ein Mechanismus, der die Sehnsucht nach der verstorbenen Person weiter verstärken kann. Solche Erkenntnisse liefern wertvolle Ansatzpunkte, um Störungen wie die anhaltende Trauerstörung (PGD) besser zu verstehen.

Was wünschen Sie sich für die künftige Forschung oder den öffentlichen Diskurs zum Thema Trauer?

Ein besonderes Phänomen ist die sogenannte vorweggenommene Trauer, die entsteht, wenn Menschen den Sterbeprozess einer nahestehenden Person begleiten. Diese Form der Trauer ist bislang noch wenig erforscht, beeinflusst aber das Leben der Betroffenen erheblich. Auch hier könnte eine verstärkte soziale Unterstützung hilfreich sein, nach Ergebnissen der Forschenden. Dabei gilt es jedoch, das sogenannte Trauerparadox zu berücksichtigen: Trauernde bewegen sich oft zwischen Annäherung und Vermeidung. Sie suchen bewusst Orte, Situationen oder soziale Kontakte auf, die sie an die verstorbene Person erinnern, weil sie dadurch Nähe empfinden. Gleichzeitig können diese Erinnerungen die Sehnsucht verstärken – was wiederum zu Vermeidung führt, obwohl die positiven Erinnerungen grundsätzlich eine entlastende Wirkung auf die Psyche haben könnten.

Die neurobiologischen Grundlagen dieses Paradoxons werden derzeit intensiv untersucht. Studien zeigen beispielsweise, dass sich in partnerschaftlichen Beziehungen bestimmte Gehirnregionen synchronisieren, die auch für Bindung von zentraler Bedeutung sind. Kommt es jedoch zum Verlust des Partners, bleibt diese neuronale Synchronisierung mit anderen Bezugspersonen aus – was zu Abweisung und sozialem Rückzug führen kann.

Gibt es etwas, das Ihrer Meinung nach im Umgang mit Trauer oft übersehen wird?

Eine Kollegin von der Universität Zürich betonte, dass im klinischen Alltag der jeweilige gesellschaftliche und kulturelle Hintergrund stärker berücksichtigt werden sollte, da jede Form der Trauer individuell verläuft. Interessanterweise findet sich jedoch in vielen Sprachen eine Gemeinsamkeit: Trauer wird häufig in Verbindung mit dem Herzen beschrieben. Dies könnte damit zusammenhängen, dass sich bei Trauer die Herzfrequenzvariabilität verändert und der Blutdruck beim Gedanken an die verstorbene Person besonders stark ansteigt.
 

Kontakt

Prof. Dr. Oliver Bosch
Abteilung für Verhaltens- und Molekulare Neurobiologie
Universität Regensburg
Tel. 0941 943 3076
Mail: oliver.bosch@ur.de

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